Wo die wilden Kerle wohnen (2009)

Eine Filmkritik von Tomasz Kurianowicz

Ein Land der wilden Fantasien

Es gibt einen Satz in Spike Jones‘ Kinderbuchverfilmung Wo die wilden Kerle wohnen, der so unerwartet und ehrlich auf einen hernieder prasselt, dass man nicht anders kann, als mit Ratlosigkeit oder Erstaunen zu reagieren. Dabei wirkt der Satz — aus dem Zusammenhang genommen — gar nicht so furchtbar: „Ich glaube, es gibt so etwas gar nicht wie einen König“, sagt eines der phantasmatischen Wesen zu dem neunjährigen Max (Max Records), der sich auf einer imaginierten Insel, auf der Fabelwesen ihr spielsüchtiges Unwesen treiben, unlängst zu deren Anführer erklärt hat. Genau an dieser Stelle, einer der Kulminationsmomente des Films, muss man ganz tief durchatmen, so tief, wie die überdimensionierten Inseltiere es oftmals tun (vom Aussehen an Ziegen oder an Wildschweine erinnernd, manchmal eher an eine Mischung aus Bienen und Bären). Warum erschüttert dieser lakonische Satz so eindringlich, so wirkungsvoll und nachhaltig? Warum fühlt man sich so gepackt durch seine Einfachheit und bittersüße Naivität? Weil man Angst hat, Maxens Bluff könnte in Zorn umschlagen? Weil man fürchtet, die Fabelwesen könnten den Schwindel erahnen und sich rächen an dem kleinen Heuchler, der, von Erwachsenen selbst nicht ernst genommen, in eine Zwischenwelt flüchtet, um die erhoffte, ihm oftmals versagte Aufmerksamkeit zu erhaschen? Vielleicht. Aber noch erschreckender, noch zuschnürender ist die ganze weltumspannende Wahrheit, die sich in dieser kurzen, rührenden Konfrontation ereignet: Wir, wir alle, ob nun neun Jahre alt oder längst ergraut, müssen uns mit diesem Zweifel, diesem ständig aufkommenden Gefühl der Orientierungslosigkeit immerfort auseinandersetzen, dabei gläubig-ungläubig und notorisch ängstlich flüsternd: Ja, es könnte sein, dass es so etwas nicht gibt wie einen König.

Dahinter verbirgt sich die Frage nach dem Sinn, nach Halt in einer chaotischen und undurchsichtigen Welt. Aber auch eine tiefenpsychologische Motivik lässt sich herauslesen, die den ganzen Film bis zum Schluss hin begleitet: Den Freud’schen Begriffen der Verdichtung und Verschiebung folgend, verarbeitet Max in einem imaginierten Mikrokosmos, den er sich selbst zurechtgelegt hat, die Enttäuschungen, die er in seinem Elternhaus erlebt. Seine pubertierende Schwester (Pepita Emmerichs) ist mit Gleichaltrigen beschäftigt, die geschiedene Mutter (Catherine Keener) verbringt ihre Zeit mit neuen Liebhabern, und der Erdkundelehrer (Steve Mouzakis) prophezeit in dreistester Lakonik, dass irgendwann, ja irgendwann die Welt aufhören wird zu existieren. Max kann und will nicht anders, als die unsagbaren Frustrationen mit Gewalt, Stursinn und Eskapismus zu beantworten: Eines Abends beginnt er zu laufen, so schnell und wahnhaft, bis er zu einem Segelboot gelangt, das ihn über die Weltmeere bringt und zur Fabelinsel navigiert. Das ist der Bruch zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Doch auch dort herrscht, trotz der Spielsucht der Inseltiere, der Liebe zum draufgängerischen Toben, ebenfalls ein undurchsichtiges Netz aus fragilen Beziehungsstrukturen. Einige fühlen sich von Max, dem neuen Herrscher, nicht ernst genommen, weniger geliebt, weniger wertvoll. Andere wollen ihm nicht glauben, dass er über die Macht und Intelligenz verfügt, die er vorzugeben scheint. Und so muss Max die gleichen Erfahrungen machen, die seine Realität schwierig und zugleich lebenswert machen: Enttäuschung, Entrüstung, Verständnis und Geborgenheit. Zugespitzt zeigt sich diese Komplexität in einer tabula-rasa-Allegorie: das großschnäuzige Tier zeigt dem neuen König sein Reich, so auch den ungeliebtesten aller Plätze: eine kahle Wüste, die nur aus riesigen Sandbergen bestehet. Ein Platz, der die Leere versinnbildlicht, die erst durch Menschenverstand mit Inhalt gefüllt werden muss.

Spike Jonze ist im wortwörtlichen Sinne ein phantastischer Film gelungen, der sich auf die Erfahrungen eines Kindes einlässt, um kompromisslos die Innenansichten eines noch um Weltverständnis ringenden Menschen zu zeigen. Die Kamerabewegungen sind schnell, zumeist wackelig und hochdynamisch; die Dialoge in eine Sprachumgebung getaucht, die permanent an eigene Kindheitstage erinnert. Und doch beschäftigt sich der Film mit universalen Themen, mit Menschheitsparadoxien, deren Ausmaße einen regulären Kinderfilm sprengen würden. Es verbietet sich geradezu, von einem Film ausschließlich für Kinder oder Jugendliche zu sprechen. Dafür sind die Beziehungen, die Verweise, ja der philosophische Gehalt zu tiefgründig, zu doppeldeutig, um allein auf eine unterhaltende, erbauende oder eine aufs Kreative abzielende Lesart beschränkt zu werden. Die Bilder, die von grandiosen, stimmungsvollen Kompositionen von Karen O und Carter Burwell begleitet werden, beschwören eine Fiktionswelt herauf, die in ihrer unbestimmten Regelhaftigkeit kluge und auch jenseits des Kinos relevante Rätsel aufgibt, die viel zu selten das Bewusstsein erreichen. So muss man dem Regisseur Spike Jones und dem ungemein talentierten Autor Dave Eggers nur danken, der mit dem Regisseur das aus wenigen Sätzen bestehende Kinderbuch von Maurice Sendak auf Spielfilmlänge ausgebreitet und zu einem dichten Drehbuch ausgearbeitet hat – danken für ein zärtliches, hochpoetisches Werk, das lange und tiefsinnig im Gedächtnis verharrt.
 

Wo die wilden Kerle wohnen (2009)

Es gibt einen Satz in Spike Jones‘ Kinderbuchverfilmung „Wo die wilden Kerle wohnen“, der so unerwartet und ehrlich auf einen hernieder prasselt, dass man nicht anders kann, als mit Ratlosigkeit oder Erstaunen zu reagieren. Dabei wirkt der Satz — aus dem Zusammenhang genommen — gar nicht so furchtbar: „Ich glaube, es gibt so etwas gar nicht wie einen König“, sagt eines der phantasmatischen Wesen zu dem neunjährigen Max (Max Records), der sich auf einer imaginierten Insel, auf der Fabelwesen ihr spielsüchtiges Unwesen treiben, unlängst zu deren Anführer erklärt hat.

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Meinungen

Klaatu · 28.02.2010

Ich war mit meinem Sohn ( 6 Jahre ) 2x drin. Bis jetzt, und wir sind gute Kinogänger, hat ihn kein Film mehr angeregt und Fasziniert wie "Wilde Kerle".
Hat natürlich nur noch in Grundzügen mit dem Buch zu tun, aber mehr kindliche Fantasie geht nicht.....

Rheingold · 31.12.2009

Ist ganz nett gemacht - aber ich finde es sollte Geschichten geben die man nicht verfilmt, vor allem Kindergeschichten, denn die brauchen Fantasie.