Wir sitzen im Süden

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Fremd im eigenen Land

„Fremd im eigenen Land“ hieß ein Song der Heidelberger HipHop-Crew Advanced Chemistry aus dem Jahre 1992, der die Schwierigkeiten von Migranten schildert, sich in Deutschland, das sie als ihre Heimat empfinden, zuhause und willkommen zu fühlen. Obwohl der Song bereits fast 20 Jahre auf dem Buckel hat, hat er nichts von seiner Brisanz verloren. Er könnte auch gut als Motto über Martina Priessners einfühlsamem und aufrüttelndem Dokumentarfilm Wir sitzen im Süden stehen — und wäre gleich in zweifacher Hinsicht zutiefst wahr. Denn die vier Menschen, von den er erzählt, sind im doppelten Sinne Fremde.
Am Telefon melden sie sich mit Namen wie Ralf Becker, Ilona Manzke und Sandra Baum und manche von ihnen sprechen mit so deutlicher Dialektfärbung, dass nie jemand auf die Idee käme, dass am anderen Ende Bülent, Fatoş und Murat sitzen. Sie arbeiten für deutsche Firmen in einem Callcenter in Istanbul und wenn sie mal gefragt werden, wo sie sich denn befinden, antworten sie ausweichend mit „Wir sitzen im Süden“, was ja nicht mal so falsch ist. Was die Männer und Frauen (neben den drei erwähnten gibt es noch Çiğdem, die das Callcenter leitet) eint, ist ihre Herkunft: Sie sind allesamt in Deutschland aufgewachsen, beherrschen die deutsche Sprache bis in die kleinsten dialektalen Feinheiten und sind bestens integriert. Oder waren es. Denn sie alle sind eher unfreiwillig in ihre alte Heimat, die Türkei, zurückgekehrt, die manchmal nicht viel mehr war als ein Urlaubsort, an dem halt zufällig Verwandte leben. Dennoch leben sie nun hier. Und man merkt ihnen in den Gesprächen deutlich an, dass sie lieber in Deutschland wären – mit Ausnahme von Çiğdem vielleicht.

Bülent wurde vor fünf Jahren in die Türkei abgeschoben, weil er in Deutschland auf die schiefe Bahn geraten war. Fatoş und Murat sind schon länger wieder zurück, sie wurden von ihren Eltern gegen ihren Willen in die Türkei entführt. Für Fatoş war das ein richtiger Schock, als ihr im Alter von 18 Jahren am Flughafen von Istanbul der Pass abgenommen und ungültig gestempelt wurde. Mittlerweile hat sie sich leidlich eingerichtet und sehnt sich doch immer wieder nach dem Schwarzwald, wo sie in ihrer Kindheit bei einer Pflegefamilie aufwuchs. Doch das Touristen-Visum, das ihr die Einreise nach Deutschland ermöglicht, kostet bei jedem Antrag 60 Euro. Und damit ist keinesfalls sichergestellt, dass die geplante Reise auch Gnade vor den Augen der Behörden erhält. „In meinen Adern fließt türkisches Blut, aber in meiner Seele habe ich Deutschland“, sagt sie am Ende des Filmes. Man merkt, dass das keine Lippenbekenntnisse sind, sondern das Statement einer Frau türkischer Herkunft, die hierzulande wohl als Musterbeispiel für eine gelungene Integration gelten würde, wenn sie denn hier leben dürfte. So bleibt für Fatoş nur der Traum, eines Tages heimzukehren.

Das Callcenter, in dem die vier arbeiten, ist wie viele andere Orte, die der Film zeigt, beinahe so etwas wie eine deutsche Enklave in Istanbul. Und das liegt nicht nur an den deutschen Namen, die die Callcenter-Agenten tragen, sondern an der gemeinsamen (deutschen) Sprache, die dort vorherrscht sowie an der Ähnlichkeit der Erfahrungen und Schicksale, die die Mitarbeiter eint.

Mit Wir sitzen im Süden ist Martina Priessner ein exzellenter Film zur Integrationsdebatte gelungen, der mit seinen überraschenden Einsichten zeigt, wie vielschichtig und verzwickt das Thema sich darstellt. Und wie platt, banal und grob vereinfachend Großteile der öffentlichen Debatte sind, die derzeit den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen.

Wir sitzen im Süden

„Fremd im eigenen Land“ hieß ein Song der Heidelberger HipHop-Crew Advanced Chemistry aus dem Jahre 1992, der die Schwierigkeiten von Migranten schildert, sich in Deutschland, das sie als ihre Heimat empfinden, zuhause und willkommen zu fühlen. Obwohl der Song bereits fast 20 Jahre auf dem Buckel hat, hat er nichts von seiner Brisanz verloren.
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