Wild (2016)

Walk on the Wild Side!

Anni (Lilith Stangenberg) ist IT-Spezialistin – dient ihrem Chef Boris (Georg Friedrich) aber zumeist dazu, ihn im Büro mit Kaffee zu versorgen. Die junge Frau lebt allein in Halle in einer Wohnung im Plattenbau und versichert ihrer jüngeren Schwester Jenny (Saskia Rosendahl) zu Beginn via Skype: „Ich bin okay hier!“ Als sie auf dem Weg zur Arbeit einen Wolf sieht, wird Anni aus ihrer Lethargie gerissen. Sie entwickelt eine Obsession für das Tier, die sich zunächst darin äußert, dass sie selbst animalisches Verhalten zeigt – etwa den Mond anheult – und im Supermarkt sowie der Tierhandlung Futter für den Wolf besorgt, um ihn abermals anzulocken. Als sich ihr die Chance bietet, betäubt sie das Raubtier und schleppt es in ihre Wohnung.
Mit Wild ist Nicolette Krebitz ein Film gelungen, der sowohl als Milieu- als auch als Charakterstudie funktioniert und gänzlich unerschrocken von einer Amour fou sowie einer Sehnsucht nach Grenzüberschreitung, einem Leben außerhalb gesellschaftlicher Restriktionen erzählt. Das Umfeld der Hauptfigur – die vom jahrhundertelangen Bergbau geprägte Stadt Halle, die Plattenbauwohnung mit hellhörig-misstrauischen Nachbar_innen sowie der Arbeitsplatz, an dem der Sexismus mit jeder Aufforderung zum Kaffeeholen weiter zementiert wird – fassen Krebitz und ihr Kameramann Reinhold Vorschneider in starke, naturalistisch anmutende Bilder. Der Wolf wird diesem Setting nicht als märchenhaftes Element hinzugefügt, sondern erscheint als völlig realistischer Gegenpart zu der von Menschen geschaffenen Welt.

Die Radikalität der Protagonistin sowie deren Besessenheit von einem Tier, die auch amourös-sexuelle Züge annimmt, ist eine Herausforderung für das Publikum – und bedarf einer Interpretin, die die extremen Handlungen und Entscheidungen der Figur in Ansätzen nachvollziehbar machen kann. Mit Lilith Stangenberg (Die Lügen der Sieger) hat Krebitz die perfekte Darstellerin gefunden: Sie verleiht der Rolle etwas Entrücktes – und ist doch in jeder Einstellung äußerst präsent; sie kann sowohl Annis anfängliche Apathie als auch deren zunehmende Entfesselung beglaubigen. Egal, ob Anni teilnahmslos auf einer schrecklichen Betriebsfeier herumsitzt, ob sie sich in Polster-Montur dem eingesperrten Objekt ihrer Begierde nähert, etwas sehr Unschönes auf dem Schreibtisch ihres Chefs hinterlässt oder mit Entschlossenheit alles aufgibt, was ihr bisheriges Dasein bedeutete – wir sehen ihr nicht nur dabei zu, wir erleben es mit. Der Film lässt uns den walk on the wild side mitgehen – und hat dabei eine enorme Anziehungskraft.

Krebitz erzeugt in ihrem dritten Langfilm als Writer-Director Situationen, die faszinieren und haften bleiben. Annis Lebensraum wird von dem Wolf mehr und mehr verwüstet und zerstört; die Kulisse dieser ungewöhnlichen Mensch/Wolf-Beziehung dürfte zu den eindrücklichsten Schauplätzen des jüngeren deutschen Kinos zählen. Zu den virtuosesten Momenten gehört eine mit James Blakes sphärischem Song „Retrograde“ unterlegte Sequenz, in der sich Anni im Treppenhaus ungehemmt ihrer Lust hingibt. Wild ist irritierend, mutig – und unvergleichlich.

(Festivalkritik Sundance 2016 von Andreas Köhnemann)

Wild (2016)

Anni (Lilith Stangenberg) ist IT-Spezialistin – dient ihrem Chef Boris (Georg Friedrich) aber zumeist dazu, ihn im Büro mit Kaffee zu versorgen. Die junge Frau lebt allein in Halle in einer Wohnung im Plattenbau und versichert ihrer jüngeren Schwester Jenny (Saskia Rosendahl) zu Beginn via Skype: „Ich bin okay hier!“ Als sie auf dem Weg zur Arbeit einen Wolf sieht, wird Anni aus ihrer Lethargie gerissen.
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Meinungen

Thomas · 12.02.2021

Das hört sich gut an und die Filmausschnitte sehen sehr vielversprechend aus. Nicht nur als alter Hallenser werde ich mir das mal anschauen. Wenn auch neunmalklug und hier vielleicht so gewollt. Halle wurde nicht vom Bergbau geprägt. Da gibt es so einiges anderes, wohl am bekanntesten die Saline mit ihren Halloren und in der Neuzeit von der chemischen Industrie. Mal sehen, wie der Film wird, bin gespannt.