Vollmond (2017)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Leidenschaft und Wahrheit

Andreas Arnstedt hat einige gute Eigenschaften. Er hat ein großes Herz für die kleinen Leute, für die Unterschicht, für die „Prolls“, bei denen er tief ins Innere des Menschlichen blickt. Er hat ein scharfes Auge für die Missstände der Gesellschaft. In ihm brodelt die Leidenschaft für Filme und fürs Filmemachen. Zusammengenommen könnte das die Voraussetzung für eine unglaubliche Super-Filmographie sein – ist es aber leider nicht. Weil bei Arnstedt noch etwas hinzukommt: Aus der Zuwendung zu den kleinen Leuten wird bei ihm plakativer Trash, aus dem Aufdecken gesellschaftlicher Probleme wird grelle Satire, aus der Leidenschaft fürs Filmen ein Holterdiepolter-Inszenieren frei Schnauze. Vollmond fügt sich insofern in Arnstedts bisheriges Œuvre ein, aber es zeigt sich auch: Arnstedt ist lernfähig; und deshalb kann dieser Film auch – mit gewissen Einschränkungen – für den unbedarften Kinogänger, quasi die Kino-Laufkundschaft, funktionieren.
Arnstedt ist lernfähig. Inzwischen weiß er, wie man Filmschnitt effektiv einsetzt; er stellt die Kamera richtig hin; hat auch dazugelernt, was die Schauspielerführung angeht. Ja, inzwischen gelingen ihm in seinem fünften Film sogar witzige Dialoge. Solches Handwerk hat bisweilen in seinen vorherigen Filmen gefehlt, wahrscheinlich als Zeichen der Radikalität seinen Kinos gedacht, tatsächlich aber eher eine vorgebliche Tugend, die aus künstlerischer Not geboren war. In Vollmond geht Arnstedt handwerklich gut mit seinem Stoff um – nach wie vor aber hapert es am dramaturgisch geschickten Erzählen, an kluger Figurencharakteristik, an plausibler Psychologie. „Ich bin mir bewusst, dass ich die Sehgewohnheiten des breiten Publikums hier nicht eins zu eins bediene“, sagt Arnstedt über seinen Film; das ist aber im Grunde eine Fehleinschätzung, immer wieder gab es Filme, im weitesten Sinne Psychodramen, die auf einer ähnlichen Grundidee basieren. Und es ist eben keine Entschuldigung für allzu einfache Mystifikationen und für das Biegen der Wahrscheinlichkeit.

Zumal nämlich seine Filme – und auch Vollmond macht hier keine Ausnahme – stets mit dem Anspruch absoluter Wahrhaftigkeit antreten. Es sei alles so passiert – das spricht aus den Filmbildern, und das spricht Arnstedt auch im Publikumsgespräch nach der Welturaufführung auf den Hofer Filmtagen deutlich aus. Dazu kommt die Behauptung größtmöglicher Radikalität, im Filmischen wie im Inhaltlichen, die, schaut man auf die Filmgeschichte, nicht wirklich gegeben ist. So scheint sich nach bisher fünf Arnstedt-Regiearbeiten das Grundproblem herauszuschälen, das in einer verschobenen Selbstwahrnehmung steckt: Sein Film ist nicht „anders“, auch wenn er das gerne wäre, kann sich daher nicht hinter einer vorgeblichen radikalen Unkonventionalität verstecken; und auch die Geschichten, die Arnstedt erzählt und deren Wahrhaftigkeit stets betont werden, sind zwar für sich schrecklich, aber eben auch „normal“. Man findet Ähnliches jede Woche auf den Panorama-Seiten der Zeitung unter der Überschrift „Familientragödie“.

In diesem Fall: Trauma der Kindheit. Immer wieder Flashbacks mit einem blutigen Messer. Und ansonsten: Das komplizierte Leben einer Frau, Lara. Die Familie nervt – Vater und Mutter im permanenten Streit, die kleine Schwester im ständigen emotionalen Zwiespalt. Lara arbeitet als Fotografin in einer Agentur; will ein Studium beginnen; findet einen Freund, dem sie sich aber nicht öffnen kann. Befindet sich im Dauerstress ihrer Gefühle; geht zur Therapie, wo sie aber nur banales „Alles gut“ herausbringt. Aber dahinter steckt halt noch was – und hier kommt Arnstedts Erzählstrategie ins Spiel, die letztendlich sehr simpel auf Auslassung setzt. Weil die Figuren dem Zuschauer stets spürbar voraus sind: Immer wieder wird gerade, wenn etwas besprochen wird, weggeschnitten, der Zuschauer außen vor gelassen – künstliche Geheimniskrämerei.

Das führt zwar am Ende zu einer schönen Aufdeckung der Geschichte; aber auch zu einer gewissen Küchenpsychologie, die weder psychologisch-medizinischen Maßstäben standhält noch einem redlichen Umgang mit dem Publikum entspricht. Weil sich hier eben wieder die Geister gegenseitig beißen: Die Behauptung absoluter Wahrhaftigkeit und der freie Umgang mit Genremitteln des Psychodramas, das nahe am B-Film gebaut ist.

Zu diesem Trash-Faktor gehört auch der sehr leichtfertige Umgang mit dem behaupteten und dem tatsächlichen Alter der Filmfiguren: Die Hauptfigur ist Mitte Dreißig, eigentlich zu alt; einige Verwandte sind spürbar zu jung. Und andererseits – das ist wieder die Seite des Wahrhaftigen: Eine Nebenhandlung um eine Scheinehe wirkt dem Film aufgezwungen und damit überflüssig; ist aber eingebaut, weil sich das – laut Arnstedt – tatsächlich so abgespielt hat. So purzeln die Leidenschaft für den Film und die Leidenschaft für die Wahrheit manchmal übereinander, und beide Seiten bekommen blaue Flecken ab. Vielleicht aber wird’s im nächsten Film noch besser.

Vollmond (2017)

Andreas Arnstedt hat einige gute Eigenschaften. Er hat ein großes Herz für die kleinen Leute, für die Unterschicht, für die „Prolls“, bei denen er tief ins Innere des Menschlichen blickt. Er hat ein scharfes Auge für die Missstände der Gesellschaft. In ihm brodelt die Leidenschaft für Filme und fürs Filmemachen. Zusammengenommen könnte das die Voraussetzung für eine unglaubliche Super-Filmographie sein – ist es aber leider nicht.
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Meinungen

jutta schröder · 08.11.2017

ich würde gern den film in berlin sehen