Vertraute Fremde

Eine Filmkritik von Tomasz Kurianowicz

Zurück in die Vergangenheit

Um sich mit Sam Gabarskis neuem Film Vertraute Fremde anzufreunden, bedarf es ein klein wenig Geduld und Bereitschaft, sich auf eine langsam in Gang kommende Geschichte einzulassen: Der Zuschauer begleitet einen ca. 40 Jahre alten Comic-Zeichner, Thomas (Pascal Greggory), auf einer Reise von seinem schönen Pariser Appartement zu einer Comic-Buch-Messe irgendwo in der Peripherie Frankreichs. Dort angekommen, wird klar, dass sich der in die Jahre gekommene Manga-Gestalter in einer tiefen Krise befindet, welche mehr als nur ästhetische Folgen hat. Der letzte Erfolg liegt lange zurück, es fehlt an zündenden Einfällen, an künstlerischen wie sinnstiftenden Idealen, und so mag der Zuschauer kaum mehr noch an einen Zufall glauben, als sich auf dem Rückweg eine schicksalhafte Verirrung ereignet: Der immer noch uninspiriert wirkende Thomas steigt, am Abend nach der Comicbuchmesse, dummerweise in den falschen Zug, will im nächsten Ort die Gleise wechseln, um doch noch die richtige Verbindung nach Paris zu erwischen, bemerkt dann allerdings, dass die Station, an der er sich jetzt befindet, ja tatsächlich! der Bahnhof seines Heimatorts ist, das Dorf seiner Kindheit. Erst jetzt, nach ca. 15 langen Minuten, beginnt die zentrale Entwicklung des Films, die langsam das Konzept des immer besser werdenden Drehbuchs offenbart.
Es geht um Thomas’ Biographie, um seine Kindheit, die Gabarski mit einer genialen Idee in die Gegenwart holt: Thomas wird durch den Irrtum am Bahnhof mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Er schlendert durch sein Heimatdorf, trifft einen alten Freund, tauscht Erinnerungen aus und besucht zum Schluss das Grab seiner Mutter. Dort, in den Kreis der Reminiszenzen gesogen, fällt er in eine Art Trance, in eine konfuse Ohnmacht. Und als er aufwacht und auf seine jungen Hände, seine etwas altmodisch wirkenden Schuhe und auf das Fahrrad seiner Jugend schaut, wird ihm klar, dass er im Körper eines Kindes steckt: seines eigenen Körpers. Thomas ist wieder 14, nur sein Verstand und das Verhalten eines Familienvaters sind ihm geblieben. So bekommt der innerlich zerrissene Mann als 14-Järhiger (Léo Legrand) die Chance, jenen Moment nochmals zu erleben, der für seine ganze Existenz so symptomatisch war: damals, als sein Vater an seinem Geburtstag sagte, nur Brot holen zu wollen, und danach nie mehr nach Hause kam, womit er seine Ehefrau (Anna Maria Lara schlüpft in die Rolle der frustrierten Hausfrau) in die Verzweiflung und schließlich in den Tod stürzte.

Sam Garbarski erklärt nicht viel, er will mit keinen kausalen Analysen die Denkleistung des Publikums kontrollieren, ähnlich wie in seinem letzten Film Irina Palm, wo er nicht wertend, sondern beobachtend den Kuriositäten des Alltags distanziert gegenübertritt. Der Zuschauer wird vielmehr in die Perspektive Thomas’ hineinversetzt, schaut durch die Augen des Betroffenen auf die rätselhafte Familie, die sich immer mehr als das Ergebnis eines historischen Umbruchs offenbart. Thomas’ Vater (Jonathan Zaccai) hat für die Résistance gekämpft, und nach dem Krieg, als das Innenleben Frankreichs sich neu zu sortieren begann, traf er den Entschluss, Clara (Anna Maria Lara) zur Ehefrau zu nehmen – nicht aus Liebe, sondern aus Verantwortungsbewusstsein für einen gefallen Kameraden, den besten Freund, dessen Tod ihn zum Vollstrecker und Verwirklicher seines Testaments, seines zu früh beendeten Lebens machte. Mag darin der Grund dafür liegen, dass Thomas’ Vater 15 Jahre später der Familie den Rücken kehrt, verschwindet, um ein neues Leben anzufangen?

Auch wenn der alte Thomas’ um den Ausgang jenes schwermütigen Geburtstags weiß, der ihn von seinem Vater trennte, kann er nichts anderes ausrichten, als lediglich ein neues Verhältnis zum Verlust zu gewinnen, ein Verhältnis, das ihm zeigt, dass jedem einzelnen Individuum das Schicksal selbst überlassen ist: Thomas wird seinen Vater nicht ändern, das Geschehene nicht umkehren können. Vielmehr fühlt er sich nach seiner Reise endlich dazu in der Lage, im Hier und Jetzt über Parallelen nachzudenken, über fort getragene Verhaltensmuster, die ihn erstaunlicherweise mit dem Vater mehr als nur verbinden. So wird die Reise in die Vergangenheit eine Fahrt durch das eigene Bewusstsein, während die Erkenntnis zu Tage tritt, dass sich die Fehler des Vaters im verletzten Sohn weiter fortsetzen können. Dieses Eingeständnis eröffnet neue künstlerische Energie: Thomas zeichnet ein Comic-Buch, das Comic-Buch, auf dem der Film Vertraute Fremde basiert (es wurde von Jiro Taniguchi gezeichnet und wird als mise en abyme, als Bild im Bild zum Schluss gezeigt). Und so wird die Frage nach dem „Warum?“ zur Metapher für das Verhalten gegenüber der eigenen Familie, den Kindern, und vielleicht wichtiger noch: dem eigenen Leben.

Vertraute Fremde

Um sich mit Sam Gabarskis neuem Film „Vertraute Fremde“ anzufreunden, bedarf es ein klein wenig Geduld und Bereitschaft, sich auf eine langsam in Gang kommende Geschichte einzulassen: Der Zuschauer begleitet einen ca. 40 Jahre alten Comic-Zeichner, Thomas (Pascal Greggory), auf einer Reise von seinem schönen Pariser Appartement zu einer Comic-Buch-Messe irgendwo in der Peripherie Frankreichs.
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Meinungen

mkrispien · 22.05.2010

Es wird Monsieur Greggory sicher freuen, aber wie ein 40jähriger sieht der 57jährige nun doch nicht aus. Es passte auch nicht, da der Film um 1970 spielt, was frau leicht an den Schuhen von Frau Lara und am Geschirrmuster erkennt;-). Ansonsten eine äußerst sensible und kundige Rezension. Und wieder was gelernt: "mise en abyme".

Matthias Olschewski · 07.05.2010

Ich habe meine Magisterarbeit über Jiro Taniguchi geschrieben und freue mich schon as ganze Jahr auf diesen Film! Ich bin am Sonntag dabei!