Transit (2010/II)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Umgekehrte Fluchtbewegung

Es waren bewegte Zeiten am Ende der 1960er Jahre in der (alten) Bundesrepublik Deutschland, als die Studenten begannen, auf die Straßen zu gehen, um gegen die verdrängte Schuld der Vätergeneration und den Muff unter den Talaren zu protestieren. Einer von ihnen war der damals gerade 21 Jahre alte Reinhard Zumpe, der vom Sozialismus und einem gerechteren, besseren Staat träumt, als die Bundesrepublik dies für ihn ist.   Seine Abneigungen und sein Suchen dürfte sich nicht nur aus der gesellschaftlichen Lage, sondern auch (wie bei vielen anderen der damaligen Demonstranten) vermutlich auch aus den eigenen beengten Familienstrukturen speisen. Der Vater, ein evangelischer Pastor, duldet keinerlei Widerspruch und ist ein Patriarch vom alten Schlag. Der Sohn rebelliert, nennt seinen Vater einen Mitläufer des NS-Regimes, fährt 1967 fasziniert von den Studentenunruhen nach Paris, um bei seiner Rückkehr aus dem Elternhaus auszuziehen.
Immer wieder zieht es Reinhard in den Folgemonaten in die DDR, von seinen Streifzügen bringt er Unmengen von Büchern und Schallplatten mit nach Westberlin. Bis er eines Tages beschließt, ganz dort zu bleiben. Er stellt einen Einreiseantrag und wird in das DDR-Aufnahmelager für Westflüchtlinge in Saasa gebracht, danach reißt der Kontakt zu seiner Familie endgültig ab. Doch das vermeintliche Glück im Osten Deutschlands ist auf Sand gebaut, nur acht Monate später sind Reinhards Pläne und Visionen gescheitert, ist seine Sichtweise auf den real existierenden Sozialismus derart erschüttert, dass er keinen anderen Weg mehr sieht als sich umzubringen. Im Januar 1969 stürzt sich Reinhard Zumpe von einem West-Berliner Hochhaus in den Tod, irgendwie hatte er es geschafft zurückzukehren, um dort seinem Leben ein Ende zu setzen. In seinem Abschiedsbrief an seine Schwester kommt seine Heimatlosigkeit, sein zielloses Umherirren zwischen den unversöhnlichen Blöcken vielleicht am eindrücklichsten zum Ausdruck: „Ich will bleiben, wo ich nie gewesen bin,“ heißt es dort. Und selbst nach dem Tod gerät er noch zwischen die Mühlen autoritärer Systeme, sein Wunsch, ohne christliches Begräbnis beigesetzt zu werden, wird vom Vater schlichtweg ignoriert. Schließlich hat der als Pastor selbst angesichts dieser persönlichen Tragödie noch einen Ruf zu verlieren…

40 Jahre nach dem Selbstmord ihres Bruder Reinhard begibt sich die Filmemacherin Angela Zumpe in ihrem Film Transit auf Spurensuche, sie will, so ihr erklärtes Ziel, die Beweggründe ihres Bruders herausfinden, für dessen Tod sie bis heute keine Erklärung hat. Bei ihrer Recherche stößt sie auf zwei weitere Menschen, Salomea G. und Henriette S. ,die wie ihr Bruder den umgekehrten Fluchtweg von West nach Ost eingeschlagen haben. Es sind ihre Erzählungen, die deutlich machen, was die rund 2.500 Flüchtlinge von West nach Ost dort in den Lagern von Saasa und Blankenfelde erwartete: Da der Staat, für den sie sich entschieden hatten, ihnen zutiefst misstraute, sahen sie sich permanenter Bespitzelung und Überwachung ausgesetzt.

Es ist vor allem Found-Footage-Material, das Angela Zumpe bei ihrer filmischen Recherche einsetzt – Amateuraufnahmen, Material vom staatlichen Fernsehen der DDR und aus den Archiven sowie Familienbilder geben insgesamt einen guten Überblick über jene Jahre, in denen sich die BRD auch politisch enorm veränderte. Die gesamtpolitischen Veränderungen waren auch in der DDR zu spüren, der Prager Frühling ließ nach dessen Niederschlagung die kommunistischen Bruderstaaten noch stärker zusammenrücken, die Abschottung wurde nun endgültig hermetisch und ließ keinen Platz für Idealisten wie Reinhard Zumpe.

Vielleicht liegt es auch in der Materialauswahl des Films und in der Beschränkung der Bilder von Reinhard Zumpe begründet, dass sich der Film vom Einzelschicksal ins Politische wendet und Reinhard Zumpe zeitweise so etwas aus dem Fokus gerät. Dennoch beleuchtet Transit ein Thema, von dem man bislang viel zu wenig weiß und das mit Sicherheit auch einen lohnenswerten Spielfilm abgeben würde. Darauf wird man vermutlich noch ein wenig warten müssen. Die Aufarbeitung dieser schwierigen Vergangenheit steht gerade erst am Anfang.

Transit (2010/II)

Es waren bewegte Zeiten am Ende der 1960er Jahre in der (alten) Bundesrepublik Deutschland, als die Studenten begannen, auf die Straßen zu gehen, um gegen die verdrängte Schuld der Vätergeneration und den Muff unter den Talaren zu protestieren. Einer von ihnen war der damals gerade 21 Jahre alte Reinhard Zumpe, der vom Sozialismus und einem gerechteren, besseren Staat träumt, als die Bundesrepublik dies für ihn ist.
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