Without

Eine Filmkritik von Martin Gobbin

Tabula rasa

Jemand putzt die Tische hinter Joslyn. Schrubbt den alten Dreck weg, reinigt die Oberfläche, bis sie wieder weiß aussieht und glänzt. Joslyn (Joslyn Jensen) bemerkt das nicht – ihr Blick ist abwesend und traurig. Dabei hat sie eigentlich genau dasselbe vor: Den Schmutz der Vergangenheit wegwischen, hinter sich lassen, neu anfangen. Tabula rasa. Deshalb sitzt sie in der Fähre, auf dem Weg zu einer Insel. Denn wo ließe sich besser neu starten als auf einer Insel, getrennt vom alten Leben auf dem Festland, ohne Internet und Handyempfang?
Auf dem abgelegenen Eiland im amerikanischen Nordwesten soll Joslyn einen alten Mann pflegen, während dessen erwachsene Tochter mit ihrer Familie in den Urlaub fährt. Frank (Ron Carrier) ist gelähmt, an den Rollstuhl gefesselt und kann nicht mehr sprechen. Joslyns Aufgaben sind konkret: Füttern, Waschen, Windeln wechseln. Die Regeln noch konkreter: Die Messer auf keinen Fall in den Geschirrspüler stecken, beim TV stets den Anglerkanal anlassen, Lautstärke 34, bei HD 36. Die Waschmaschine einmal pro Woche im Leerlaufmodus anstellen. Steht alles in der seitenlangen „Bibel“, die Joslyn von ihren Gastgebern ausgehändigt bekommt.

Zu Beginn von Without ist Joslyn ein ganz normales Mädchen – eine Studentin, die sich an die praktische körperliche Arbeit im Haushalt erst gewöhnen muss, die die Avancen eines Handwerkers zurückweist und die ziemlich unsicher ist, wie sie mit dem körperlich lebendigen, aber geistig leblosen Frank umgehen soll ohne seine Würde zu verletzen.

Doch nach und nach zeigen sich Risse in der Fassade. Immer wieder starrt Joslyn auf das Handy-Foto eines anderen Mädchens, vermutlich ihrer Ex-Freundin. Und wo sie das Handy danach auch hinlegt, immer ist es am nächsten Morgen anderswo. Joslyn wird misstrauisch und beginnt zu glauben, Frank spiele seine Behinderung nur und nutze diese Position aus, um sie zu beobachten und zu schikanieren. Doch Regisseur Mark Jackson lässt keinen Zweifel daran, dass es nicht Frank ist, mit dem etwas nicht stimmt, sondern Joslyn selbst.

Auf ihrem Rücken prangt plötzlich eine hässliche, rätselhafte Wunde. Zudem verliert sie langsam jeglichen Respekt vor dem schwerkranken Frank. Sie benutzt seine Zahnbürste, strippt vor ihm und küsst ihn einmal. Sie masturbiert vor einer Webcam und initiiert verzweifelt ein groteskes Date, bei dem allein schon das Zuschauen höchst unbehaglich ist. Und sie bricht, während sie ein wundervolles Cover von Lil Waynes Lollipop singt, nahezu in Tränen aus.

Warum Mark Jacksons leiser Debütfilm Without heißt, wird erst spät enthüllt. Doch es ist nicht dieses Ziel, die Auflösung, sondern der Weg dorthin, der aus dieser Coming-of-age-Geschichte ein starkes Stück amerikanisches Independent-Kino macht. Eine äußere Reise wird zum Symbol der inneren Weiterentwicklung eines jungen Menschen, der erst an seiner eigenen Stärke zerbrechen und Leid zulassen muss, um mit einem traumatischen Erlebnis abschließen zu können.

Jackson rafft immer wieder stilistisch geschickt, indem er Jump Cuts so einsetzt, dass sie Handlungsabläufe verkürzen ohne dass die Zeitsprünge sofort sichtbar werden. Das gelingt mit Hilfe von zueinander komplementären Kameraeinstellungen vor und nach dem Schnitt, die Kontinuitätsbrüche wie bloße Blickachsenwechsel wirken lassen.

Zudem durchzieht Jackson sein eigentlich spröde-realistisches Drama immer wieder mit überraschenden Mystery-Elementen. Wenn Joslyn Frank verdächtigt, ihr Handy verschwinden zu lassen, dann rückt die Kamera den alten Mann häufig ganz an den Rand des Bildkaders, in die Unschärfe. Das macht ihn nicht nur schwer einschätzbar, sondern bringt ihn auch in eine Zuschauer-ähnliche Rolle des passiven, voyeuristischen Beobachters. Mitunter versteckt sich die Kamera auch selbst in heimlichen Beobachterpositionen – dazu ertönt ein unheimlich rauschender Klangteppich, der die diffus bedrohliche Atmosphäre noch verstärkt.

Joslyns sukzessiver psychischer Desintegration zuzusehen, ist mitunter schmerzvoll. Das ist allerdings nicht etwa ein Argument gegen den Film, sondern ein Kompliment für seine emotionale Wirkung. Die Kamera weigert sich wegzuschauen, wenn Joslyn den bettlägerigen Frank missbraucht, wenn die aus dem Urlaub zurückkehrende Familie sie konfrontiert und wenn das Mädchen dabei endlich seine Anspannung aufgibt und den viel zu lang unterdrückten Gefühlen Ausdruck verleiht. Die Annahme des Schmerzes als Schritt zur Läuterung.

Es ist ausgerechnet ein sehr modernes Medium, ein Handy-Video, das uns erklärt, warum Joslyn dieses klassisch dramaturgischen Moments der Katharsis bedarf. Obwohl: Erklärt wurde der Grund schon vorher – dieses berührende, weil wunderbar authentische Ende aber lässt ihn uns spüren.

Without

Jemand putzt die Tische hinter Joslyn. Schrubbt den alten Dreck weg, reinigt die Oberfläche, bis sie wieder weiß aussieht und glänzt. Joslyn (Joslyn Jensen) bemerkt das nicht – ihr Blick ist abwesend und traurig. Dabei hat sie eigentlich genau dasselbe vor: Den Schmutz der Vergangenheit wegwischen, hinter sich lassen, neu anfangen. Tabula rasa.
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