Winterdieb

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Ihr da oben, wir da unten...

Die Touristen sind alle anonym. Unter den Helmen und den dicken Skianzügen sehen sie alle gleich aus. Doch einen quirligen kleinen Jungen fischt sich Ursula Meier in ihrem Film Winterdieb heraus und erzählt seine Geschichte. Es ist der 12-jährige Simon (Kacey Mottet Klein), der mit seiner Schwester (Léa Seydoux) am Fuße eines Skigebiets in den Schweizer Alpen wohnt. Der Junge klaut wie ein Profi Skier und Ausrüstung der reichen Touristen, um sie später zu verkaufen. Seine kriminelle Energie ist kein Selbstzweck, auch kein Spaß oder Zeitvertreib — es ist seine Existenzgrundlage.
Simon ist ein Junge, den man so schnell nicht wieder vergisst, vor allem weil er uns ans Herz wachsen wird. Er stiehlt zwar wie ein Profi, doch gerade diese Arbeitsweise — die auf eine „langjährige“ Erfahrung schließen lässt — trotzt dem skeptischen Zuschauer Respekt ab. Simon handelt und feilscht beim Verkaufen seiner gestohlenen Waren derart clever und pragmatisch, dass man sich zudem dabei ertappt, sich selbst einen solchen Geschäftssinn zu wünschen. Und bereits hier ist der Zuschauer gefangen, lobt den Jungen für sein Geschick, statt sich die Fragen zu stellen: Warum muss der Kleine stehlen, um zu überleben? Warum geht er nicht zur Schule? Wo sind seine Eltern.

Ihm stellen unsere Stellvertreter diese Fragen, zum Beispiel die Touristin (Gillian Anderson) oder der englische Saisonarbeiter (Martin Compston), selbst einer der vielen Bettgefährten von Simons älterer Schwester fragt ihn nach seinen Eltern. Doch die Geschichte vom tödlichen Unfall löst sich in Luft auf, weist auf das tragische Schicksal dieses Jungen hin, den seine viel ältere Schwester nie betreut, da sie damit beschäftigt ist, ständig mit neuen Typen ins Bett zu springen. Verglichen mit ihr ist Simon erwachsen.

Winterdieb ist der neue Film der Schweizer Regisseurin Ursula Meier, die vor zwei Jahren mit Home — damals mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle — einen unerwarteten Arthouse-Hit landete. Meier verlässt mit Winterdieb das Terrain der in Home fast schon surrealen Ausgangslage zu Gunsten eines glasklaren und ungeschönten Realismus. Schon von den ersten Szenen an erinnert ihr Film daher stark an das Kino der belgischen Dardenne-Brüder. Meiers Regiestil ist zwar weniger streng mit gewollten stilistischen Grenzen versehen, doch die Ähnlichkeiten — gerade zu Der Junge mit dem Fahrrad — sind nicht von der Hand zu weisen. Auch Meier folgt ihrem Protagonisten auf Schritt und Tritt. Manchmal heftet sich die Kamera an Simons Schulter und blickt mitfühlend und zuneigungsvoll auf den schweren Alltag einer verlorenen Jugend.

Der Film ist handwerklich äußerst überzeugend umgesetzt und verfügt mit seinem jungen Hauptdarsteller über ein ganz besonderes Kinojuwel. Sein zartes Gesicht und seine zerbrechliche Gestalt stehen ständig im krassen Gegensatz zu seinem erwachsenen Verhalten, das von einem unbändigen Willen zeugt, sich mit einem harten Leben zu arrangieren. Mit Rückschlägen ist zu rechnen. Und wenn in einer großartigen Szene das Drehbuch seine zweite Ebene offenbart, erhält dieses Schicksal eine glaubwürdige und nachvollziehbare Vergangenheit. Dass in diesem kritischen Moment Meiers Film nicht zerbricht, ist vielleicht seine größte Kunst. Aber bei weitem nicht seine einzige.

Winterdieb

Die Touristen sind alle anonym. Unter den Helmen und den dicken Skianzügen sehen sie alle gleich aus. Doch einen quirligen kleinen Jungen fischt sich Ursula Meier in ihrem Film „Winterdieb“ heraus und erzählt seine Geschichte. Es ist der 12-jährige Simon (Kacey Mottet Klein), der mit seiner Schwester (Léa Seydoux) am Fuße eines Skigebiets in den Schweizer Alpen wohnt. Der Junge klaut wie ein Profi Skier und Ausrüstung der reichen Touristen, um sie später zu verkaufen. Seine kriminelle Energie ist kein Selbstzweck, auch kein Spaß oder Zeitvertreib — es ist seine Existenzgrundlage.
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Meinungen

KinoKaminwerk · 12.11.2012

Hallo Frau Ambros!

So etwas sollte man eigentlich nicht in einer Rezension verraten. Gehen Sie einfach in den Film. Er ist wirklich großartig. Der Vergleich mit „Der Junge mit dem Fahrrad“ ist mir auch irgendwie gekommen. Doch während ich das Werk der Dardenne-Brüder überbewertet finde, da ich ab einem gewissen Punkt nicht mehr nachvollziehen konnte, dass eine völlig fremde Friseurin ihr privates Glück für einen Jungen opfert, der sogar die Hand beißt, die ihn streichelt, ist Ursula Meier ein absolut stimmiges und gefühlvolles Werk geglückt. Es gibt sogar eine Stelle, da gelingt es Ursula Meier das Mitgefühl für die ältere Schwester zu wecken, die sonst eigentlich alles falsch macht, was man falsch machen kann. Zudem hat Ursula Meier ein wunderbares Filmende gefunden.

Gudrun Ambros · 08.11.2012

Wo sind die Eltern? - In einer anderen Rezension las ich, diejenige, die sich als Schwester ausgibt, sei in Wirklichkeit die Mutter. Stimmt das?

Mike T. · 11.07.2019

JA, es stimmt,
Louise ist im Film tatsächlich die leibliche Mutter von Simon!