Wild Plants

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Les fleurs du bonheur

„Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie.“ (aus Ralf Rothmanns Roman „Junges Licht“)
„Nur noch kurz die Welt retten“ (Tim Bendzko) ist heute schwierig geworden. Angesichts von großstädtischer Anonymisierung, wachsender Überbevölkerung, globalen Wirtschaftskrisen und dem steten Gefühl, dass sich die eigentlich doch ökologisch so aufgeklärte westliche Zivilisation in vollem Bewusstsein immer weiter zugrunde richtet: Nur um des Profits willen. Kein Wunder also, dass einst subkulturelle Mini-Bewegungen wie „Guerilla Gardening“, „Kollektiver Ökolandbau“ oder die US-amerikanisch geprägte „Sharing“-Kultur seit mehreren Jahren schon in den gesellschaftlichen Mainstream drängen. Denn eins ist klar: So wie jetzt kann es nicht mehr (lange) weitergehen, lautet das vereinigende Motto seiner Protagonisten.

Genau auf jene neue Gesellschaftsavantgarde – irgendwo zwischen botanischem und biografischem Wildwuchs vor sich hin gedeihend – stürzt sich der Münchner HFF-Absolvent, Autor, Maler und Filmemacher Nicolas Humbert (Step Accross the Border, Middle of the Moment) in seinem neuesten Dokumentarfilm. Besser gesagt: In seinem nächsten Film-Gedicht, denn Humberts hochartifizielle Filmarbeiten, die er in der Vergangenheit schon oft in Kombination mit seinem Filmproduktionspartner Werner Penzel (Zen for Nothing) realisiert hat, sind in erster Linie filmische Wahrnehmungsprotokolle, die einen ruhig mittreiben lassen, dabei behutsam hineinziehen in ferne Welten – und neue Ansichten. Auch in seinem jüngsten Dokumentarfilmfestivalerfolg Wild Plants (u.a. eine lobende Erwähnung für die herausragende musikalische Gestaltung von Georg Zeitblom auf dem DOK.fest München 2016) benutzt der Synästhesist unter den deutschen Dokumentarfilmern das Medium Film ein weiteres Mal als berauschende „Erfahrungsmöglichkeit“, wie er das selbst gerne in Q&As ausdrückt.

Selten wurde Peter Sloterdijks berühmtes Diktum „Du musst dein Leben ändern“ in sinnstiftendere Kinobilder umgesetzt als in Wild Plants. Einmal selbst ein Vogelküken in der Hand halten … Einmal selbst einen Laubfrosch aus nächster Nähe sehen … Einmal selbst die Fühler einer an sich völlig ungestressten Biene berühren … Das Gute, das Wahre – kurz: das Schöne läge eigentlich so nahe. Nur das Gros der Menschen schaut heute nicht mehr allzu genau hin. Nach der Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit ist nun die Entfremdung desselben zur Umwelt, zur allernatürlichsten Genese vom Werden und Vergehen – oder um in der Gärtnersprache zu bleiben: vom Säen, Ernten, Essen, Ausscheiden und Düngen – rund um den Globus in vollem Gange.

In der formidablen Bildsprache (Kamera: Marion Neumann) wie im behutsamen, manchmal sogar regelrecht beglückenden (Musik-)Schnitt (Simone Fürbringer) zieht hier Nicolas Humbert mehrfach alle Register seiner Regiekunst. Woran das liegt? Zuallererst am ehrlichen Zauber der vorgefundenen Authentizität in den Drehorten (z.B. in den Geisterlandschaften Detroits), wo sich die Natur nachhaltig ihre Übermacht zurück erkämpft. Zwischen leeren Immobilienblasen-Häusern und verwaisten Industriebrachen spitzen mehr und mehr grüne Stängel, Bäume und Hecken hervor. Genauso wie sich die einheimischen Tiere ihren Platz zurückerobern, während im Hintergrund die Polizeisirenen heulen.

Zum zweiten aber auch an der Wahrhaftigkeit vieler O-Töne aus dem Munde der sorgsam Portraitierten, die sich Humberts Kamera niemals selbst ausstellen, sondern allseits altruistisch handeln: Für ihre Lebens- wie Liebespartner, untrennbar im Verbund mit den Ahnen (wie z.B. im Falle des indianischen Philosophen Milo Yellow Hair im Pine-Ridge-Reservat) oder dem selbst gewählten Kollektiv (wie im „Jardins de Cocagne“ am Rande des Genfer Flughafens). Altersunabhängig immer im Vorausblick für kommende Generationen. Kurzum: Für die Kinder von morgen.

Nicolas Humberts insgesamt stiller, aber wirkungsmäßig besonders kraftvoller Film ist gerade deshalb so stark, weil einige Impulse seiner zeitweise begleiteten Überzeugungstäter innerhalb kürzester Zeit auf den Zuschauer überspringen. Statt weltweit grassierendem Ego-Kapitalismus wird hier ein schlichtweg besseres, bedeutend einfacheres Dasein im Gemeinschaftsgeist gepriesen: Fernab von werblicher Öko-Wohlfühl-Stimmung oder verkitschter „Landlust“-Idylle. Denn echte Arbeit wird hier wieder erfahrbar, genauso wie der anhaltende Sinn hinter gemeinsamen, nicht primär gewinnorientierten Projekten.

Menschen wie der Zürcher „Guerilla Gardener“ Maurice Maggi ziehen beispielsweise abends los, um in den abseitigen Flecken der Nobel-Stadt wild zu pflanzen, um so der glatten urbanen Fassade bewussten Wildwuchs zuzumuten. Kürbis-, Hagebutten- oder Malvensamen sind seine Waffen, erklärt der überzeugte „Samenbomber“ mit der Liebe zu subversiver Dada-Anarchie. Maggi ist einer von Humberts unvergesslichen Pionieren, die für sich erkannt haben, dass ein Leben im Einklang mit der Natur erst recht in der Gegenwart möglich – und im Speziellen auch notwendig – ist. Seine Methode nennt er mit Stolz einen „Pakt mit der Natur“, der hoffentlich viele Nachahmer finden wird.

Ambitioniert zwischen transzendentem Gedankengut und dreckigen Handflächen verortet, ist Humberts zarter, essayistisch wunderbar lose inszenierter Dokumentarfilm im Grunde so etwas wie die Gute-Nacht-Wärmeflasche für die Seele des gepeinigten, von Computern und Bilanzen bis in den Schlaf verfolgten Großstadtnomaden, der nirgendwo mehr Wurzeln hat. Wild Plants ficht dafür mit den schönsten Waffen der Erde gegen den selbstzerstörerischen Zeitgeist des modernen Lebensstils: Mit selbstgetrockneten Calendula-Blüten, mit sich am Boden kringelnden Kätzchen, mit dem Geschmack wild gewachsener Birnen oder mit dem zauberhaften Klang jahrelang getrockneter Holzscheite. Dieses filmisch herausragende Klang-Kunst-Erlebnis zelebriert eine vehemente Militanz für das Schöne, die lange nachwirkt.

Gleichzeitig ist Nicolas Humberts ruhig-meditatives Dokumentarfilm-Poem Wild Plants ein künstlerisch entschlossenes Statement gegenüber der urbanen Gleichmacherei und den scheinbar niemals ruhenden Wachstumsuhren der gegenwärtigen Turbo-Globalisierung. Damit ist ihm ein sensationeller Entschleunigungsfilm gelungen, der absolut langsam, im besten Sinne organisch ist. Ein langes Nachleben ist ihm jetzt schon gewiss.

Wild Plants

„Nur noch kurz die Welt retten“ (Tim Bendzko) ist heute schwierig geworden. Angesichts von großstädtischer Anonymisierung, wachsender Überbevölkerung, globalen Wirtschaftskrisen und dem steten Gefühl, dass sich die eigentlich doch ökologisch so aufgeklärte westliche Zivilisation in vollem Bewusstsein immer weiter zugrunde richtet: Nur um des Profits willen.
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Meinungen

Kim · 17.01.2017

Schöner, feiner Film über den Kreis des Lebens und "Modern Urban Gardening".
Als Humbert-Film hat er keine Handlung und auch keinen direkten "Lehrauftrag". Die schönen, ruhigen Bilder bringeneinen zur Ruhe und wecken Zuversicht in die Mitmenschen.
Sehenswert für alle, die gerne selber denken und keine Action brauchen.