Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben

Eine Filmkritik von Alina Impe

Gedanken als Gefängnis

Die 9 ist eine schlimme Zahl. Aber es geht noch schlimmer. Die 58 zum Beispiel. Oder eine 6. Beides in Kombination ist tödlich. Genau wie die Farben rot und schwarz. Jetzt muss ganz schnell „neutralisiert“ werden. Eine 7 ist da ganz gut, noch besser aber eine 100. Und die böse Strahlung von rot und schwarz bekämpft man am besten mit weiß. Sobald bestimmte Gegenmittel gefunden sind, verlangsamt sich der Puls und die Welt ist – wortwörtlich – wieder in Ordnung. Bis neue bedrohliche Zahlen und Farben auftauchen und der Teufelskreis von vorne beginnt.
Oliver Sechting leidet an sogenannten magischen Zwangsgedanken. Nahezu ununterbrochen bevölkern sie seinen Verstand und zwingen ihn dazu, jede noch so kleine Veränderung in seiner Umwelt als hochgradig gefährlich zu interpretieren. Die irrationale Annahme, dass zukünftige Katastrophen bereits als bedrohliche Omen in Form von Zahlen, Farben oder Objekten in der eigenen Umgebung lesbar werden, folgt ihm auf Schritt und Tritt. Oliver weiß, dass kein kausaler Zusammenhang zwischen diesen Dingen besteht. Trotzdem kämpft und verliert er jeden Tag aufs Neue gegen sein selbstgeschaffenes Gedankengefängnis. Dabei könnte er so viel glücklicher sein.

Oliver lebt seit Jahren in einer harmonischen Partnerschaft mit Rosa von Praunheim und arbeitet selbst als Filmemacher und Autor. Zusammen mit seinem Freund und Kollegen Max Taubert reist er nach New York, um eine Dokumentation über die dortige Künstlerszene zu drehen. Doch sein permanentes zwanghaftes Bestreben, dem weltlichen Chaos durch eine vermeintliche Zahlenlogik Einhalt zu gebieten, stellt nicht nur die Freundschaft zu Max auf eine harte Probe, sondern gefährdet auch das gemeinsame Filmprojekt.

In Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben sind sowohl Oliver als auch Max nicht nur stumme Beobachter hinter der Kamera. Persönliche Videotagebucheinträge beider Filmemacher wechseln sich mit Interviewsequenzen mit prominenten New Yorker Kunstschaffenden ab. „Bist du abergläubisch?“, fragt Oliver den Starregisseur Tom Tykwer. „Nein“, entgegnet dieser abrupt. Und fährt dann fort: „Das ist mir jetzt etwas unangenehm, aber wenn ich gleich diesen Raum verlasse, müssen es auf jeden Fall exakt zehn Schritte bis zur Tür sein. Selbst wenn ich eigentlich nur neun bräuchte. Dann lege ich eben noch einen Extraschritt ein.“ Tykwer versteht Oliver, denn scheinbar brauchen viele Menschen jene immergleich ausgeführten Rituale als Gegenmittel für den „Irrsinn der Existenz“. Erschreckend bleibt trotzdem, wie weitverbreitet magische Zwangsgedanken offenbar sind.

Olivers psychische Erkrankung begann bereits im Kindesalter, als sein Vater überraschend an Krebs verstarb. Um die Abwesenheit dieser zentralen Beschützerfigur zu kompensieren, begann Oliver verschiedene Bewegungsabläufe nach einem bestimmten Muster zu ritualisieren. Türklinken mussten nach oben gedrückt werden, Linien durften nicht betreten werden, Stufen mussten in einer bestimmten Reihenfolge abgeschritten werden. Als dieses Verhalten auffällig wurde, übertrug Oliver seine Zwangshandlungen in das Reich der Zahlen. Dort haften sie bis heute. Oliver ist 38 Jahre alt und hat mehrere Psychiatrieaufenthalte sowie medikamentöse und psychotherapeutische Behandlungen hinter sich. Nichts hat geholfen.

Vielleicht ist es dann sogar vernünftig, die eigene Verrücktheit irgendwann als Teil der Persönlichkeit zu akzeptieren. Das glaubt zumindest die exzentrische Künstlerin Ultra Violet, einst ein wesentliches Mitglied von Andy Warhols Factory-Jüngerschaft. Wichtig sei allein, dass man sich selbst genug annimmt und liebt. „Das kann ich nicht“, sagt Oliver. „Ich glaube nicht mal, dass andere Menschen mich mögen.“

Aber Ultra Violet gibt sich damit nicht zufrieden. „Ich liebe mich“, sagt er schließlich. Wer Oliver 90 Minuten lang durch diesen Film begleitet hat, realisiert nicht nur, wie entkräftend es sein muss, wenn die Gedanken an Zahlen und Farben ständig an Gut und Böse geknüpft sind und um ein irrationales Ursache-Wirkung-Prinzip kreisen. Am Ende des Films wünscht man ihm auch von Herzen, dass er eines Tages imstande sein wird, die Liebe zu den Zahlen für die Liebe zu sich selbst aufzugeben.

Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben

Die 9 ist eine schlimme Zahl. Aber es geht noch schlimmer. Die 58 zum Beispiel. Oder eine 6. Beides in Kombination ist tödlich. Genau wie die Farben rot und schwarz. Jetzt muss ganz schnell „neutralisiert“ werden. Eine 7 ist da ganz gut, noch besser aber eine 100. Und die böse Strahlung von rot und schwarz bekämpft man am besten mit weiß.
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