Wer ist Thomas Müller?

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Auf der Suche nach dem Durchschnittsdeutschen

Einen von ihnen kennt wohl fast jeder. Der aber taucht erst ganz am Schluss auf, was vielleicht auch deshalb geschieht, weil er nun wahrlich kein Durchschnittstyp ist. Und vielleicht ja auch deshalb, damit man nicht den Eindruck erhält, es ginge um ihn, den Superstar, den Fußballspieler mit dem verschmitzten Lächeln und der unorthodox-genialen Spielweise eines Straßenkickers. Denn eigentlich geht es in Christian Heynens Film nicht um den Namen, sondern um das, was sich dahinter verbirgt. Und das ist, wenn man der Prämisse des Films folgt, ein Einblick in die Seele und die Befindlichkeiten des Durchschnittsdeutschen.
Mehr als 50.000 Menschen in Deutschland tragen den Namen Thomas Müller. Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes ist es die Kombination, die es in Deutschland zahlenmäßig am häufigsten gibt. Wenn man so will, ist Thomas Müller das reale Pendant zum deutschen Michel oder zu der aus der Werbung hinlänglich bekannten Erika Mustermann. Wer also, so die Ausgangshypothese von Heynens als transmediales Projekt gestartetem Film, könnte einen besseren Eindruck davon verschaffen, wie der Deutsche an sich tickt als eben jener per Statistik ermittelte „Otto Normalbürger“? Zumal, wie der eingangs befragte Statistikexperte der obersten Zahlenhüter der Nation weiß, der möglichst breite Durchschnitt und nicht die Extreme die Basis einer Gemeinschaft bilden.

Und so macht sich der Film auf zu einer Reise durch deutsche Seelenlandschaften, hangelt sich entlang an statistisch unterlegten Aussagen über das Denken, Fühlen und Handeln des ganz normalen Deutschen und weiß für jeden der angeschnittenen Lebensbereiche mindestens einen Thomas Müller vorzuweisen, der als Gewährsmann Einblick gibt in das Innenleben einer Nation. Da gibt es beispielsweise den Börsenanalysten, der lange vor dem Aktienboom des neuen Marktes Anlegertipps veröffentlichte und der einen Einblick in Finanzen und Wirtschaft gibt – und von dem man nebenbei erfährt, dass er unter dem Pseudonym Carlos (wir erinnern uns, so hieß auch der gefürchtetste Terrorist der Welt) Grafiken zu produzieren versuchte, die allerdings den Gesetzen des Kunstmarktes nicht standhielten. Oder den Pfarrer, der bisweilen unter den Aussagen und dem Verhalten des Vatikans leidet und der befürchten muss, dass er irgendwann der letzte seines Namens ist, der noch in die Kirche geht. Oder der Musiker aus Berlin, der beinahe mal Sänger für „Die Ärzte“ geworden wäre und der eher die wilde, unangepasste und kreative Seite der Deutschen sieht, die freilich im Ausland wenig wahrgenommen wird. Oder der Soldat, der in Afghanistan seinen Dienst versieht und der womöglich in Wahrheit gar nicht Thomas Müller heißt, der aber zum Schutz seiner Identität diesen Namen verpasst bekam, wie dies wohl für Soldaten im Auslandseinsatz üblich ist? Weil das Konzept nicht in jedem Fall greift, hat Heynen ein paar Tricks zu Hilfe genommen, die aber im Sinne einer Zuspitzung durchaus legitim erscheinen: Wenn etwa eine Anwältin und Spezialistin für Ehe- und Scheidungsrecht erscheint, hört sie immerhin auf den Namen Sabine Müller (sozusagen als statistisches Pendant zum im Titel aufgeführten Durchschnittsdeutschen). Ähnliches geschieht mit einem Jugendlichen, der Einblicke in die Gefühlslage der jungen Generation geben soll.

Kontrastiert werden die Gespräche mit Aussagen, die Christian Heynen auf einer eigens dafür eingerichteten Website www-wer-ist-thomas-mueller.de sammelte. Dort konnten Menschen aus aller Welt Videos und Bilder hochladen, in denen sie ihren Blick auf die deutschen in Worte, Bilder und Töne fassten.

Man fühlt sich bei Wer ist Thomas Müller? ein wenig an andere, vor allem deutsche, Dokumentarfilme erinnert, die in gewisser Weise konzeptionell Ähnliches versuchten – so etwa Thomas Frickel, der in Deckname Dennis einen fiktiven amerikanischen Geheimagenten auf die Spur der deutschen Seele schickte (das war, wie man schnell merkt, lange vor dem NSA-Skandal) und dabei vor allem Schräges, Absonderliches und Bizarres zutage förderte. Auch Jean Boué nahm in Kennzeichen Kohl einen Namen zum Anlass für eine Suche nach dem irgendwie deutschen Wesen. Und zuletzt versuchte Matt Sweetwood in Beerland mithilfe des Lieblingsgetränks Bier dem Charakter und der teutonischen Liebe zum Gerstensaft auf die Spur zu kommen.

Das Konzept des Films bildet bei allem Charme in der Umsetzung, die fast schon ein wenig an Gernstls Reisen erinnert, auch ein wenig dessen Crux. Die Einsichten in die Seele des Durchschnittsdeutschen sind erwartungsgemäß recht durchschnittlich – aber ehrlich gesagt war aufgrund der Prämisse auch kaum anderes zu erwarten. Und die schlussendliche Erkenntnis des Films, wie es sich denn nun tatsächlich um jenes seltsame Wesen des Durchschnittsdeutschen verhält, rechtfertigt nur teilweise den enormen Aufwand, den der Film zuvor betrieben hat. Möglicherweise hätte hier eine Verdichtung und Verknappung auf weniger Protagonisten dem Gesamteindruck ein schärfer konturiertes Bild vermittelt.

So aber spiegelt der Film die große Schwäche der Statistik wider, auf die er fußt: Je höher die Anzahl der erhobenen Daten, desto unpersönlicher und unschärfer werden die Erkenntnisse, die die Aussagen über den Einzelnen zu treffen imstande sind. Zum Glück aber entgehen die Thomas Müllers gerade noch diesem Schicksal – nur hätte man sie sich am Ende weniger als Funktionsträger und Repräsentanten, sondern mehr als Individuen gewünscht.

Wer ist Thomas Müller?

Einen von ihnen kennt wohl fast jeder. Der aber taucht erst ganz am Schluss auf, was vielleicht auch deshalb geschieht, weil er nun wahrlich kein Durchschnittstyp ist. Und vielleicht ja auch deshalb, damit man nicht den Eindruck erhält, es ginge um ihn, den Superstar, den Fußballspieler mit dem verschmitzten Lächeln und der unorthodox-genialen Spielweise eines Straßenkickers. Denn eigentlich geht es in Christian Heynens Film nicht um den Namen, sondern um das, was sich dahinter verbirgt.
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