Trockenschwimmen (2017)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Freischwimmer

Eigentlich ist es nie zu spät, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Erst recht nicht, wenn man schon ein paar Semester mehr auf dem Buckel hat – und im Prinzip nur noch nach vorne sieht: Wer weiß denn schon, wie lange einem das Geschenk des Lebens noch bleibt? Ridley Scotts Blade Runner singt zum Ende hin eine sehr düstere Kino-Ballade genau davon, wenn Gaff (Edward James Olmos) – die ominöseste aller Figuren – dem titelgebenden Blade Runner Deckard (Harrison Ford) ein kurzes „But then again, who does?“ hinterherruft …

Angenehm philosophisch hat auch Susanne Kim ihren beeindruckenden Dokumentarfilm Trockenschwimmen angelegt. Die junge Leipziger Regisseurin (White Box) hat ihren zweiten Langfilm über insgesamt sieben SeniorInnen, alle zwischen 64 bis 74 Jahre alt, die endlich Schwimmen lernen wollen, mit reichlich metaphysischen Momenten angereichert, was der an sich trockenen Story nur allzu guttut. “Schwimmen lernen ist ja zugleich eine Metapher auf vielerlei Ebenen“, hatte die Filmemacherin ihren Ansatz bei der Premiere auf dem DOK Leipzig im vergangenen Herbst umrissen: Schwimmen sei im Kern ein Sinnbild für den Lebenszyklus, deutlich mehr eben als das bloße Erlernen und Anwenden einer nun mal überlebensnotwendigen Fähigkeit.

In ihrem wunderbar einfühlsamen Dokumentarfilm, von ihrer Kamerafrau Emma Rosa Simon obendrein in herrlich poetische Bilder mit Weichzeichner-Optik à la David Hamilton getaucht, spielt sich das wahre Leben vielmehr abseits des Kaltwasserbeckens im Hallenbad ab. Die äußerst unterschiedlichen Schwimmeleven lernen sich untereinander – und damit auch ein Stückchen sich selbst – in diesem speziellen zehntätigen Kurs von Neuem kennen. Auch abseits von Badekappen und Trockenübungen am Beckenrand, versteht sich.

Der 74-jährige Manfred beispielsweise, immerhin ein passionierter Segler (!), hat nie Schwimmen gelernt, weil sein Vater einst wieder an die Kriegsfront zurückmusste und nicht mehr zurückkam, um ihm die richtigen Techniken unter Wasser beibringen zu können. Er geht mit Monika (72) in einer magisch-bezaubernden Szene zum Tanzen. Im Anschluss schreibt der von Grund auf sympathische Eigenbrötler in sein Tagebuch, dass das Ganze für ihn ein totaler Reinfall gewesen sei: Sicherlich, Monika ist jung geblieben, attraktiv, aber für das Tanzparkett keinesfalls zu gebrauchen. Trotzdem werden beide mit hoher Wahrscheinlichkeit weiterhin vom Suchen und Finden der Liebe träumen, was in ihren beiden Gesichtern herrlich mitzuerleben ist. Schwimmkurs hin oder her …

Die Damen wiederum, die in jener unkonventionellen Schwimmklasse in der Mehrzahl sind, verjüngen sich quasi täglich wieder unter der Dusche. Beim gemeinsamen Abbrausen wirken diese durchaus schon etwas betagten Damen plötzlich wieder wie Teenager: Sie johlen zusammen, seifen sich gegenseitig ein – und schnattern herzerwärmend über dies und das. Auch diese Szene brennt sich geradezu ein, wie so viele Momente in Trockenschwimmen, der vor allem von seiner visuellen Kraft lebt und sich im buntscheckigen Score zum Film einiges zutraut.

Zwischen beherzten „Wir schaffen das!“- und panischen „Ich muss hier raus!“-Augenblicken wachsen diese sieben starken ProtagonistInnen immer mehr zu einer Einheit zusammen, denn ein Element einte alle von Beginn an: Angst. „Ich hab’ mich immer so durchlaviert“ umreißt das eine der Schwimmschülerinnen mit Scham im Gesicht. Etwas so scheinbar Selbstverständliches wie Schwimmen nicht zu beherrschen, sei doch im Grunde gar nicht möglich. Im weiteren Wechsel von Tauch- und Trockenübungen lernen sie in kurzweiligen 77 Minuten voneinander, Ängste abzubauen und schlichtweg an sich zu glauben, während sie – schon wieder so eine schöne Szene – von außen von kleinen Jungs aus einem anderen Schwimmkurs wie Aliens angesehen werden: Was machen die denn da?

Nur „Schwimmen lernen“, nein: „Leben lernen“, wie das Monika einmal so passend wie präzise formuliert. Genau darum geht es in Susanne Kims zärtlich-poetischem Meisterstück Trockenschwimmen. Verwoben mit zahlreichen Super-8-Dachbodenaufnahmen, kurzen Ausschnitten aus Monster-B-Movies und Esther Williams’ grandiosen Wasserballett-Choreografie-Szenen aus dem Golden Age Hollywoods entsteht so ein sehr gelungenes Portrait einer älteren Generation, die noch einmal angreift, die Mut hat. Und wenn dann im Abspann sogar noch der Peer-Raben-Klassiker Die großen weißen Vögel für, von und mit Ingrid Caven erklingt, möchte man das Kino sowieso nie mehr verlassen.
 

Trockenschwimmen (2017)

Eigentlich ist es nie zu spät, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Erst recht nicht, wenn man schon ein paar Semester mehr auf dem Buckel hat – und im Prinzip nur noch nach vorne sieht: Wer weiß denn schon, wie lange einem das Geschenk des Lebens noch bleibt?

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