Tiger Girl (2017)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Zahnlose Tiger

Vor dreieinhalb Jahren legte Jakob Lass mit Love Steaks eine kleine Revolution vor: Stark und wild und gegen so ziemlich jede Konvention wurde hier das deutsche Kino im German-Mumblecore-Stil aufgemischt. Mit seinem neuen Film Tiger Girl gelingt Lass nicht annähernd ein ähnliches Kunststück. Denn auch wenn dieser Film eine Menge starker Szenen enthält, auch wenn Lass einige seiner Tugenden weiterentwickelt, ergänzen sich doch die einzelnen Teile nicht zu einem großen Ganzen.

Erste Begegnung: Maggie will einparken und eine Dame in dickem Wagen schnappt ihr die Parklücke vor der Nase weg. Auftritt Parkplatzwächterin: Die tritt der doofen Tussi den Außenspiegel weg. Jetzt haste Platz. Zweite Begegnung: In der Kneipe sieht Maggie einen alten Kollegen von der Polizeischule wieder. Man unterhält sich, man flirtet, man knutscht. Und er will sie mit zu sich nach Hause nehmen. Auftritt Taxifahrerin: Die fährt mit Maggie, aber ohne Theo weg. Und erklärt dann in rasendem Sermon ihre Gründe: Sie hat schon gesehen, wie in einigen Jahren aus Maggie eine alkoholabhängige Alleinerziehende von sieben Kindern wird. Dritte Begegnung: In der U-Bahn wird Maggie von drei aggressiven Typen angegangen und es ist nicht mehr weit zur Vergewaltigung. Auftritt mit Baseballschläger: In heftiger Prügelei macht diese junge Frau, die uns jetzt schon mehrmals begegnet ist, kurzen Prozess mit den drei Arschlöchern. Und Maggie hat ein Erfolgserlebnis, als sie mehr versehentlich den Baseballschläger einem der Typen an den Kopf schmeißt. Ab jetzt heißt Maggie „Vanilla the Killer“; und ihre neue Freundin, das ist Tiger.

Jakob Lass erzählt von der Beziehung zwischen der schüchternen, mädchenhaften Maggie und dieser wilden Tiger, eine Pippi-Langstrumpf-Figur, die in einem Bus wohnt und macht, was sie will. Und die der kleinen Maggie Selbstbewusstsein einimpft, das Bewusstsein, dass sie mehr ist als die Summe der Ansichten von anderen. Tiger weckt in ihrer Vanilla den Killerinstinkt. Das ist der große Handlungsbogen in Tiger Girl. Und leider gelingt es nicht, diese Haupthandlung präzise herauszuarbeiten; vielmehr bleibt sie eher als Idee denn konkret erkennbar. Denn Lass kann es nicht lassen, verschiedene Nebenhandlungen einzubauen, er kriegt die intensive Kraft, die diffizile Balance nicht mehr hin, die Love Steaks groß gemacht hat.

Lass dreht nach seinem Fogma-Manifest, das eine Inszenierung nach Handlungsskelett vorsieht, mit vielen Improvisationen über zuvor klar herausgearbeitete Charaktere. Jetzt haben wir ein erstes Problem: Dass diese Maggie, klein und scheu wie sie ist, bei der Polizei, dann gar in einem Sicherheitsdienst ihre Ausbildung absolvieren will, wirkt ziemlich unglaubwürdig. Warum? Darauf stottert auch Maggie nur rum, ja, Polizei, das ist ja auch was Soziales, da hilft man anderen. Und damit das zweite Problem: Die Dialoge sind vor allem in der ersten Filmhälfte oftmals ziemlich gestammelt, wenig auf den Punkt; hier funktioniert die freie Improvisation nicht wirklich, vielleicht war zu wenig Zeit für Proben, vielleicht war auch einfach nicht ganz klar, wohin die Szene, das Gespräch führen soll, vielleicht war, was halt immer passieren kann, auch einfach das Material nicht besser geeignet für den Filmschnitt. Womit wir beim dritten Problem wären: Einige Nebenhandlungen sind reichlich lang, fast überflüssig. So die Konfrontation mit dem Polizisten Theo, der zu Anfang stehengelassen wurde und jetzt eine Art Privatkrieg gegen Vanilla und Tiger beginnt. Oder dass Tiger neben Maggie/Vanilla noch andere Bekannte hat, zwei Drogenfuzzis, die auf einem Dachboden leben und nichts tun als dumm rumzulabern. Tiger hilft ihnen, Schulden zu bezahlen, indem sie mit Vanilla Leute abzieht. Sprich: in Security-Uniform beklaut. Das ist der Mittelteil des Films, in dem er fast zum Stillstand zu kommen droht. Denn erst im Nachhinein findet man so etwas wie eine Erklärung, dass damit wohl Tiger charakterisiert werden soll als junge Frau, die mit ihrer Wildheit eine ganz besondere Form des Helfersyndroms entwickelt hat: den Junkies helfen, der armen Maggie helfen …

Erst im letzten Drittel wird der Film so richtig stark. Dann nämlich, wenn Tiger erkennen muss, welches Monster sie aus Vanilla gemacht hat. Die jetzt zum reinen Es geworden ist, das seine Aggressionen rauslassen muss. Das Pendel ist umgeschlagen, jetzt hat Vanilla das Heft in der Hand, auf diesen Moment hat Lass hingearbeitet, leider eben zu angestrengt. Denn irgendwie ist es dann doch kein großer Unterschied, ob Vanilla einer zufälligen Passantin aus dem Nichts ins Gesicht schlägt oder ob man im Einkaufszentrum Leute „kontrolliert“, sprich sie demütigender Nackt-Leibesvisitation unterzieht – dies eben noch unter Tigers Kommando und zur „Erziehung“ von Vanilla.

Was bleibt sind unglaublich tolle Szenen. Beispielsweise mit Herrn Feldschau, Chef der Security-Schule, die beste Figur des ganzen Films: Er spielt sich selbst in seiner tatsächlichen Schule und mit seiner klaren Autorität, seiner distanzierten Freundlichkeit, seiner deutlichen Linie ist er ein Verwandter des Hotelportiers von Love Steaks, der ja auch eine unvergessliche Filmfigur geworden ist. Und irgendwann zieht Vanilla mit zwei Droogs durch die Nacht auf der Suche nach einem kleinen bisschen Horrorshow und ihr begegnet Robert Gwisdek, der in dialektischer Diskussion einen Deal um Ohrfeigen aushandelt, den man so auch noch nicht erlebt hat. In solchen Szenen schafft es Lass, sein Anliegen auf den Punkt zu bringen: Hier spiegelt sich die Angriffsszene aus der U-Bahn, das Opfer wurde zur Täterin, weil der Kampf schon immer in ihr geschlummert hat; und die Ohnmacht ist von der Macht gar nicht so weit entfernt.

Tiger Girl (2017)

Vor dreieinhalb Jahren legte Jakob Lass mit „Love Steaks“ eine kleine Revolution vor: Stark und wild und gegen so ziemlich jede Konvention wurde hier das deutsche Kino im German-Mumblecore-Stil aufgemischt. Mit seinem neuen Film „Tiger Girl“ gelingt Lass nicht annähernd ein ähnliches Kunststück. Denn auch wenn dieser Film eine Menge starker Szenen enthält, auch wenn Lass einige seiner Tugenden weiterentwickelt, ergänzen sich doch die einzelnen Teile nicht zu einem großen Ganzen.

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