The Sessions - Wenn Worte berühren

Eine Filmkritik von Sophie Charlotte Rieger

Vom Suchen und Finden der körperlichen Liebe

Dass auch geistig und körperlich behinderte Menschen sexuelle Gefühle und Bedürfnisse haben, ist schon lange kein Tabu-Thema mehr. So beschäftigte sich erst kürzlich die belgische Komödie Hasta La Vista mit dem Road Trip dreier junger Männer zu einem behindertengerechten Bordell in Spanien. The Sessions von Regisseur Ben Lewin, der selbst in Folge einer Polio-Erkrankung körperlich beeinträchtigt ist, geht noch einen Schritt weiter und nimmt sich viel Zeit, die sexuelle Entwicklung seines Protagonisten explizit zu beleuchten.
Der Dichter und Journalist Marc O’Brien ist seit seiner Kindheit infolge einer Polioerkrankung am ganzen Körper gelähmt. Das Atmen ist ihm nur mit Hilfe einer Eisernen Lunge möglich, die er lediglich für wenige Stunden am Tag verlassen darf. Während die Muskeln keinerlei Arbeit mehr verrichten, kann Marc seinen gesamten Körper noch gut erspüren. So ist es wenig verwunderlich, dass sich in intimen Momenten der Körperpflege durch die weibliche Betreuerin eine Erektion einstellt. Der Auftrag, einen Artikel über das Sexualleben behinderter Menschen zu schreiben, bestärkt den erzkatholischen Marc in der Idee, endlich seine Jungfräulichkeit zu verlieren. Aber ist die Inanspruchnahme einer Sexualassistentin moralisch vertretbar? Marc wagt das Experiment und lernt, dass seine körperliche Behinderung nicht die einzige Hürde ist, die es auf dem Weg zu sexueller Befriedigung zu nehmen gilt.

Basierend auf dem Artikel On Seeing a Sex Surrogate des echten Marc O’Brien hat Ben Lewin das Drehbuch zu seinem Film nah an der Wirklichkeit geschrieben. Hierbei half insbesondere die Zusammenarbeit mit engen Freunden Marcs, wie zum Beispiel seiner ehemaligen Sexualassistentin Cheryl, im Film verkörpert von Helen Hunt. Erfunden ist lediglich der Part des katholischen Priesters. Aus der Luft gegriffen sind die ausführlichen Gespräche zwischen Marc und Father Brendan (William H. Macy) jedoch nicht – der tiefgläubige O’Brien suchte in der Tat wiederholt Rat in der Kirche.

Neben der gut recherchierten Geschichte sind es vor allem die Schauspieler, die The Sessions zu einem überzeugenden Film machen. John Hawkes kann in der Darstellung seiner Figur lediglich auf Mimik und Sprache zurückgreifen. Sein Körper steht ihm als Ausdrucksmittel nicht zur Verfügung. Dennoch gelingt es ihm auf eindrückliche Weise, die Gefühle von Zerrissenheit, Einsamkeit und Sehnsucht seiner Figur glaubhaft zu transportieren. Insbesondere die Einsamkeit Marcs und der Wunsch nach körperlicher Nähe werden für den Zuschauer spürbar. Hierbei funktioniert die Eiserne Lunge als eindrucksvolles Bild für die Isolation der Hauptfigur. Auch Helen Hunt spielt einen anspruchsvollen Part. Dass sich ihre Figur als professionelle Sexualassistentin im Laufe weniger Treffen in ihren extrem stark eingeschränkten Klienten verliebt, ist zwar unglaublich, niemals aber unglaubwürdig. Gemeinsam gelingt es den beiden Hauptdarstellern, Gefühle großer Intimität und Nähe auf die Leinwand zu bringen und das Publikum tief zu berühren.

Ben Lewin nimmt sich viel Zeit, um die Treffen zwischen Marc und Cheryl ausführlich zu beleuchten. Dabei wahrt er die Hollywood-typische Scheu vor der Nacktheit männlicher Körper, stellt aber Marcs erste Schritte auf dem Feld körperlicher Liebe durchaus explizit dar, ohne jemals pornographisch zu werden. Auch wenn Lewin den körperlichen Kontakt seiner Figuren oft nur andeutet und die Zusammenkünfte von Marc und Cheryl durch Angst und Scham gekennzeichnet sind, gelingt es ihm zumindest kurzzeitig eine intensive und erotische Stimmung zu erzeugen.

Obwohl der Fokus der Geschichte allein durch den Tabubruch des Themas auf der Sexualität der Hauptfigur liegt, geht es in The Sessions um viel mehr als nur Marcs ersten Geschlechtsverkehr. Im Laufe der Sitzungen mit Cheryl werden Ängste und Schuldgefühle offenbart, die Marc auf der Suche nach einer intimen Partnerschaft weitaus mehr behindern als seine körperliche Einschränkung. Somit erschafft Ben Lewin seine Hauptfigur als komplexen Charakter, der sich nicht nur durch seine Behinderung auszeichnet. Infolgedessen kann sich der Zuschauer trotz aller Unterschiede mit Marc identifizieren und auf die Geschichte einlassen.

Von einigen wenigen Brüllern abgesehen, arbeitet Ben Lewin mit einem sehr behutsamen Humor, der seinen Figuren und dem Thema den notwendigen Respekt entgegenbringt. The Sessions ist im Grunde ein Liebesfilm. Dementsprechend emotional ist auch die Inszenierung der Ereignisse und insbesondere gegen Ende der Druck auf die Tränendrüse der Zuschauer. Das Erzähltempo ist langsam, das Konzept dialoglastig. Während diese fehlende Dynamik treffend die Lebenswelt Marcs wiedergibt, führt sie auf dramaturgischer Ebene zuweilen doch zu einer gewissen Langatmigkeit der Geschichte.

The Sessions ist kein Unterhaltungsfilm, sondern intensives Gefühlskino, das stellenweise zu sehr ins Sentimentale abgleitet. Nichtsdestotrotz ist die Geschichte von Marc O’Brien und seinem Beharren auf einem gleichberechtigten, sexuellen Beziehungsleben ergreifend und bereichernd.

The Sessions - Wenn Worte berühren

Dass auch geistig und körperlich behinderte Menschen sexuelle Gefühle und Bedürfnisse haben, ist schon lange kein Tabu-Thema mehr. So beschäftigte sich erst kürzlich die belgische Komödie „Hasta La Vista“mit dem Road Trip dreier junger Männer zu einem behindertengerechten Bordell in Spanien. „The Sessions“ von Regisseur Ben Lewin, der selbst in Folge einer Polio-Erkrankung körperlich beeinträchtigt ist, geht noch einen Schritt weiter und nimmt sich viel Zeit, die sexuelle Entwicklung seines Protagonisten explizit zu beleuchten.
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Meinungen

Gerda Lichtenberger · 06.01.2013

Den Film zu sehen hat sich gelohnt. Auch die überraschend erscheinende Liebe der Therapeutin zu ihrem Klienten, erschien glaubwürdig. Irgendwann bricht halt die "Professionalität". Umso größer die Wirkung auf mich. Fast schockartig. Positiv gemeint!