The Cut (2014)

Eine Filmkritik von Stephan Langer

Kraft durch Rührung

Heutzutage können Menschen in der Türkei öffentlich über den armenischen Völkermord sprechen und dabei sogar das Wort „Völkermord“ in den Mund nehmen, ohne zu flüstern. Vor ein paar Jahren, 2007, wurde der Journalist Hrant Dink, Armenier mit türkischer Staatsbürgerschaft, noch von einem türkischen Nationalisten erschossen, weil er von einem „Völkermord“ sprach. Auch Fatih Akin wurde nach einem Interview in der ehemals von Dink herausgegebenen Zeitung Agos öffentlich angefeindet: „Wir drohen der Zeitung Agos, den armenischen Faschisten und den so genannten Intellektuellen, […] dieser Film wird in keinem einzigen Kino in der Türkei gezeigt werden.“ Gemeint ist damit The Cut, mit dem Akin seine Trilogie „Liebe, Tod und Teufel“ (Liebe: Gegen die Wand, 2004 / Tod: Auf der anderen Seite, 2007) vollendet.

The Cut ist ein epischer Western und Abenteuerfilm und bebildert den Leidensweg des armenischen Schmieds und Familienvaters Nazaret Manoogian (Tahar Rahim), der während des ersten Weltkriegs von türkischen Gendarmen deportiert wird und nur knapp dem Tod entkommt, dann vor dem Hintergrund des Genozids an seinen Landsleuten versucht seine verschollenen Töchter wiederzufinden. Dabei zerfällt der Film inhaltlich in zwei Teile: im ersten wird ein kollektives Schicksal betrachtet, im zweiten nimmt ein Einzelschicksal den gesamten Raum ein. Mit zunehmender Dauer verengt der Film auch leider seine eigene Sichtweise: zu Beginn werden die Deportierten in der Gruppe gefilmt, wie sie in sengender Wüstenhitze erschöpft an der Kamera vorbeilaufen, wie sich die Blicke ihrer geschundenen Körper gemeinsam auf etwas richten, wie einzelne aus ihr heraustreten. Die Zwangsarbeit, die sie in dieser kargen Wüstenlandschaft verrichten müssen, ist absurd: sie sollen Straßen bauen, mit Spitzhacke und Karren. Immerfort laden sie Steine in ihre Schubkarren. Dabei kann sich hier keiner mehr Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Jede der Figuren und jeder der Zuschauer weiß, was bei solch einer Schinderei kommen muss, bis es schließlich soweit ist und der erste ausgehungerte Körper umkippt. Obwohl die etwas glatten Bilder emotionale Reaktionen hervorrufen, ist der Grad der Rührung, der mit ihnen transportiert werden soll, zu jeder Zeit spürbar und schmälert auf diese Weise leider eben jene Rührung. Alles ist dabei wunderbar gefilmt in Cinemascope, mit Objektiven, die dem menschlichen Sehen sehr nah kommen: die Totalen distanzieren sich von einem direkten Blick auf die stattfindende Gewalt, Spannung baut sich keine auf. Stattdessen regiert die Devise der etwas zu sehr gewollten, pathetischen Niederschlagung der Zuschauer im Angesicht des Leidens.

Dieses Schema erreicht seinen Höhepunkt, wenn Manoogian durch einen Schnitt in den Hals seine Stimme verliert, das symbolisch für das jahrelange Schweigen der Armenier angesichts ihres Schicksals steht. The Cut bietet hier seinen Zuschauern eine oberflächliche Identifikation über ein Mitleiden an, ja erwartet es fast schon von ihnen. Von diesem Punkt an wechselt der Film von einer trotz allem Pathos anklagenden, politischen Perspektive über zu einer individuellen. Wir folgen fortan dem suchenden Helden über acht Jahre hinweg bei seinem Leidensweg quer durch die Welt. Obwohl er alles verloren hat – neben seiner Stimme auch seine Familie und seinen Glauben – reist er wie ein Besessener immer weiter und bleibt trotz aller existenziellen Zuspitzungen und Demütigungen von anderen immer eine seltsam naive Figur, die nicht fähig scheint zu hassen. Selbst wenn er Böses vollbringt, tut er es verständnisvoll und mit gutem Willen. In jeder Notsituation taucht dann plötzlich jemand auf, der ihm mit Barmherzigkeit weiterhilft – wo solch ein Film endet, das ist jedem schon vor dem Ende klar. Mardik Martin, der früher die Drehbücher von Martin Scorsese schrieb, hat am Drehbuch mitgearbeitet und das Ende laut Akin komplett umgeschrieben: heraus kommt ein süßliches Ende, ein Pamphlet für einen gutgläubigen Humanismus, dem aber doch noch ein Makel hinzugefügt werden muss – klassische amerikanische Glückseligkeit, europäisch gebrochen.

Einerseits will Akin Bilder des Massenmords nicht aussparen, andererseits verkleidet er ihn in elegische Aufnahmen und nimmt den furchtbaren Bildern dadurch ein Vielfaches an Wucht. Auf Figurenebene wird der Verlust des Gottglaubens von Manoogian aufgewogen durch seine schier unmenschliche Hoffnung und seinen unbezwingbaren Glauben an die eigene Familie. Die bösartige, teuflische Welt, durch die er sich bewegt, die ihn übel zugerichtet hat und immerfort weiter schindet (egal auf welchem Erdteil er sich befindet), belohnt seine Naivität am Ende seltsamerweise noch.

Leider scheitert The Cut in der zweiten Hälfte: Gut und Böse sind zu schematisch konstruiert und voneinander getrennte Bereiche, Unschuld vermischt sich an keiner Stelle mit Schuld, außerdem verliert der Film zunehmend jegliche Distanz zu sich selbst und schwelgt in einer Emotionalität, die angesichts der Härte des Schicksals von Maoogian nicht zusätzlich noch hätte forciert werden müssen. Die echten Tränen, die er als eine Art Metakommentar in einer Szene vergießt, als er in einem Hinterhof in Aleppo Charlie Chaplins The Kid sieht, strebt auch Akins Auflösung zu eindeutig an. Doch verstellt der nicht gerade nuancierte Grundton des Films, mithin seine affektive Rührseligkeit jegliches aufrichtiges Mitfühlen. Zu Tränen sollte niemand im Kinosaal gezwungen werden.
 

The Cut (2014)

Heutzutage können Menschen in der Türkei öffentlich über den armenischen Völkermord sprechen und dabei sogar das Wort „Völkermord“ in den Mund nehmen, ohne zu flüstern. Vor ein paar Jahren, 2007, wurde der Journalist Hrant Dink, Armenier mit türkischer Staatsbürgerschaft, noch von einem türkischen Nationalisten erschossen, weil er von einem „Völkermord“ sprach.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

@Stephan Langer · 09.11.2014

Wäre es in diesem Fall nicht schlauer gewesen, diese Aussage als Zitat wiederzugeben? Ich finde, "armenischen Völkermord" auch rein sprachlich eher unglücklich, sollte es nicht doch besser "Völkermord an den Armeniern" heißen?

---

Zum Film: Ich war am Ende doch enttäuscht, auch wenn meine Erwartungen von Anfang an eher gering waren.

Der Völkermord an den Armeniern wird zu Beginn des Films - für mich überraschend - recht brutal gezeigt. Auch wenn die Realität zweifelsfrei viel grausamer war - ich finde, manche Szenen hätten so nicht so sein gemusst.

Zustimmung zu "Leider scheitert The Cut in der zweiten Hälfte": Die Suche nach seine beiden Töchtern ist recht langatmig, da sich die Geschichte fast ausschliesslich auf die Suche konzentriert ohne dem Geschehen an den einzelnen Stationen nennenswerte Aufmerksamkeit zu widmen.

Ich finde, Fatih Akin hat sich mit diesem Thema übernommen; vieles im Film hat auf mich künstlich oder auch zu klischeehaft gewirkt und so dem Film Stimmung und Atmosphäre genommen. Meine Lieblingsfilm von Akin bleiben weiterhin "Solino" und "Gegen die Wand" ("Im Juli" habe ich bis heite leider noch nicht gesehen).

Stephan Langer · 16.10.2014

Diese Aussage entstammt einem Interview mit Fatih Akin.

Franz · 16.10.2014

"Heutzutage können Menschen in der Türkei öffentlich über den armenischen Völkermord sprechen und dabei sogar das Wort „Völkermord“ in den Mund nehmen, ohne zu flüstern." Eine schöne Einleitung, die sie da wählen, woher haben sie diese Erkenntnisse? Bleiben sie bitte bei der Filmanalyse und lassen sie politische Statements.