The Book of Henry (2017)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Was … war … das … denn?!

„The Book of Henry“ ist ein Werk, das einen wirklich völlig ratlos zurücklässt. Was hat man da gerade gesehen? Was wollte einem das sagen? Und vor allem: Was ist hier bloß so furchtbar schiefgelaufen? Der Film beginnt durchaus nett: Die alleinerziehende Susan (Naomi Watts) lebt mit ihren beiden Söhnen, dem elfjährigen Henry (Jaeden Lieberher) und dem achtjährigen Peter (Jacob Tremblay), in einer US-Vorstadt. Henry ist hochbegabt und kümmert sich um die finanziellen Angelegenheiten der Familie; seine Mutter – die als Kellnerin in einem Diner arbeitet, aber eigentlich Jugendbücher schreiben möchte – spielt derweil mit Begeisterung Videospiele und sorgt chaotisch-gekonnt für das Wohlergehen ihrer Kinder.

Colin Trevorrow, der die hinreißende SciFi-romcom-Skurrilität Safety Not Guaranteed inszeniert hat, ehe er mit Jurassic World ganz passabel in Blockbuster-Gefilde vordrang, setzt im Anfangsteil seiner Arbeit ohne Zweifel etwas zu sehr auf den vertrauten Indie-Chic: Das suburbane Heim samt Baumhaus und Herbstlaub wird in gefällig-polierten Aufnahmen erfasst, die Bekleidung der Figuren scheint frisch aus dem Vintage-Mode-Shop bestellt worden zu sein – und mit Sarah Silverman als Susans Kollegin Sheila fehlt auch der unvermeidliche, betont schrille sidekick nicht. Obendrein sind die von Gregg Hurwitz verfassten Dialogzeilen übertrieben pointiert und somit denkbar lebensfern. Dennoch entfaltet das Geschehen einen gewissen, authentisch anmutenden Charme – was in erster Linie den talentierten Cast-Mitgliedern zu verdanken ist. Die selbst in filmischen Totalausfällen wie Movie 43 oder Diana stets noch unerschütterlich-versiert spielende Naomi Watts verkörpert ihre Mutterrolle mit überzeugender Charakterstärke und dem nötigen Witz; zudem harmoniert sie wunderbar mit ihren zwei jungen Co-Stars, mit denen sie auch zuvor schon jeweils einmal vor der Kamera stand (für St. Vincent beziehungsweise für Shut In). Jaeden Lieberher hat bereits in Midnight Special seine Begabung für die Interpretation außergewöhnlicher Kinder bewiesen, während Jacob Tremblay in Raum eine Leistung auf Augenhöhe mit der Oscar-Preisträgerin Brie Larson lieferte. Auch hier gewinnen die beiden in der Exposition der Geschichte rasch die Sympathie des Publikums und legen eine glaubhafte Brüder-Chemie an den Tag.

Recht unvermittelt wandelt sich The Book of Henry dann von einer formelhaften, aber hübsch-unterhaltsamen Familienerzählung in ein Sterbedrama: Henry wird nach einem Anfall ins Krankenhaus eingeliefert – und erfährt dort, dass er einen Gehirntumor hat. Dieser zweite Akt der Handlung funktioniert deutlich weniger als der erste – nicht nur weil alles viel zu abrupt und hastig geschieht und die Musik überaus unsubtil eingesetzt wird, sondern weil die Balance zwischen Tragik und Komik nicht gelingen will. Wenn Henry alle medizinischen Fachtermini und sogar Behandlungsoptionen kennt und damit den Arzt verblüfft oder wenn er bei Sheilas Krankenbesuch psychologisch fundiert die komplizierte Beziehung zwischen ihm und ihr erläutert, soll das vermutlich die Schwere des Ganzen auflockern; Trevorrow trifft dabei allerdings nur äußerst selten den richtigen Ton. Dass mit Lee Pace in der Rolle eines fürsorglichen, Grey’s-Anatomy-esken Neurochirurgen ein attraktiver Mann auftaucht, der für Susan die unverhoffte Möglichkeit eines heteronormativen Liebesglücks in Aussicht stellt, macht die Sache nicht unbedingt besser oder gar innovativer.

Noch problematischer ist allerdings der Haken, den das Drehbuch im dritten Akt schlägt – denn plötzlich begibt sich The Book of Henry auf (B-)Krimi/Thriller-Terrain. Schon im ersten Akt gab es einige Einschübe, die an eine juvenile Version von Das Fenster zum Hof denken ließen, wenn Henry das Nachbarhaus beobachtete und zu dem Schluss kam, dass seine stille Mitschülerin Christina (Maddie Ziegler) von ihrem Stiefvater, dem Polizeichef Glenn Sickleman (Dean Norris), misshandelt wird. Seine Versuche, dem Mädchen zu helfen, blieben erfolglos. Nun zeigt sich, dass Henry einen detaillierten Plan entwickelt hat, um Glenn zu töten (!) – und dass seine Mutter diesen Plan ausführen soll. Tonbänder mit Anweisungen sollen ihr dabei helfen. Nach revenge-movie-Standardsituationen wie Waffenkauf und Schießübungen mündet das Werk in seinem Finale zwar letztlich doch nicht in einem gänzlich platten Selbstjustiz-Appell, sondern nimmt eine weitere, wenig glaubwürdige Wendung; gleichwohl irritiert die bedenkenlos-krude Art und Weise, in welcher hier Themen wie Trauer und Kindesmissbrauch ausgebeutet werden, um einen twistreichen Genre-Mix zu präsentieren. Was die Situation im Nachbarhaus betrifft, interessiert sich The Book of Henry weder für das Opfer der häuslichen Gewalt (Christina bleibt eine passive Randfigur) noch für den Hintergrund des Täters (Glenn ist eine korrupt-unheimliche Gestalt ohne weitere Eigenschaften). „Die Moral muss stimmen“, resümiert Henry am Ende via Voice-over. Was die Moral dieses wüsten Werks sein soll, wird wohl das Geheimnis von Hurwitz und Trevorrow bleiben. Fest steht indes: Es stimmt entschieden zu wenig in diesem Film.

The Book of Henry (2017)

„The Book of Henry“ ist ein Werk, das einen wirklich völlig ratlos zurücklässt. Was hat man da gerade gesehen? Was wollte einem das sagen? Und vor allem: Was ist hier bloß so furchtbar schiefgelaufen? Der Film beginnt durchaus nett: Die alleinerziehende Susan (Naomi Watts) lebt mit ihren beiden Söhnen, dem elfjährigen Henry (Jaeden Lieberher) und dem achtjährigen Peter (Jacob Tremblay), in einer US-Vorstadt.

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