Stop the Pounding Heart

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Alles eine Frage der Perspektive

Dokumentarfilm mit fiktionalen Anteilen oder Spielfilm mit Laiendarstellern? Alles eine Frage der Perspektive: Beim Filmfestival in Cannes wurde Stop the Pounding Heart zwischen den anderen Spielfilmen des Programms als bescheidenes authentisches Coming-of-Age Drama mit Laiendarstellern und Cinema-verité-Anleihen wahrgenommen. Beim Dokumentarfilmfestival in Leipzig dagegen nähert man sich eher aus dokumentarischem Blickwinkel dem Film an. Die große Stärke von Stop the Pounding Heart ist, dass der Film beiden Betrachtungsweisen stand hält.
Im Mittelpunkt steht Sara, ein 14jähriges texanisches Mädchen aus einer streng christlichen Großfamilie. Wenn die zwölf Kinder sich mit ihren Eltern um den Tisch versammeln, dann liest der Vater beim Essen aus der Bibel vor. Ihren Lebensunterhalt bestreiten sie als Ziegen-Farmer, die Kinder arbeiten mit, zur Schule gehen sie nicht. Um sie vor schlechten Einflüssen zu schützen, werden sie vom Vater mit Hilfe der Bibel zu Hause unterrichtet. Den älteren Mädchen „predigt“ die Mutter von der ernsthaften Ehe, die es anzustreben gilt und warnt vor vergnüglichem Dating mit Jungs. Aber ein solcher Junge ist natürlich nicht weit. Ein zweiter Erzählstrang führt ihn parallel ein: Colby, ein Bullen-Rodeo-Reiter. Ein wenig schüchtern, mit Asthma, aber ein echter „Texas Boy“, so wie es sein Kumpel groß auf dem Rücken tätowiert hat. Rauchen, trinken, Tontauben schießen im Trailer-Park. Zwischen den Baseball-Kappen und Cowboy-Hüten ballert auch eine hochschwangere Frau mit. Eine wilde Gegenwelt zu Saras behütetem Heim.

Dass diese zwei Welten überhaupt aufeinandertreffen, ist dem Script von Roberto Minervini zu verdanken. Stop the Pounding Heart ist nach The Passage (2011) und Low Tide (2012) der dritte Teil der Trilogie, die der italienisch-stämmige Regisseur mit seinem Kameramann Diego Romero im ländlichen Texas realisiert hat. Jedes Mal ist die Kamera nah dran an den Menschen und atmet förmlich das Lebensgefühl der Protagonisten. Diese sind Menschen, die vor Ort auch jenseits des Films genauso leben, wie sie gezeigt werden. Die mobile Kamera heftet sich an die Menschen. Was sie ins Objektiv fasst, wird fast physisch spürbar. Es braucht keine Musik, um eine intensive, emotionale Dichte zu schaffen, die Geräusche der Natur geben den Filmbildern atmosphärische Textur: Das Zirpen der Grillen in der schwülen Hitze, das Atmen der Ziegen, das Trampeln und Schnauben der Bullen im Staub.

Der Film taucht ein in die realen Lebenswelten seiner Protagonisten, um mithilfe von inszenierten Szenen und Spielfilm-Dramaturgie ein lyrisches Drama auf hartem dokumentarischem Grund entstehen zu lassen. Die entgegengesetzten Pole, zwischen denen die 14-Jährige ihr Coming-of-Age erlebt, werden von Filmbeginn an prägnant gesetzt. Auch in der Montage: krault Sara am Filmbeginn noch unschuldig Ziegen, so streichelt sie bei der Begegnung mit Colby den mächtigen Bullen, ein Symbol des erwachenden sexuellen Interesses, dem ihre Familie beim beten in der Kirche direkt gegen-geschnitten ist. Was in einem Spielfilm als überdeutlicher Symbolismus stören würde, funktioniert hier gut. Was in einem Spielfilm als über-akzentuierte Manierismen aufstoßen würde, entfaltet vor realem Hintergrund einen ganz eigenen Zauber. Wenn die Mädchen der Familie in viktorianische Kleider gehüllt düster romantisch inszeniert im Wald picknicken, dann geistert sogar ein Hauch von Picknick am Valentinstag durch den Film. Stop the Pounding Heart ist reich an ästhetischen Anspielungen, die von seitlich einfallendem Licht geprägten Bilder in Saras Haus wecken Erinnerungen an alte holländische Meister, die sonnenüberstrahlten Bilder draußen beschwören die Freiheit aus Filmen der 70er Jahre herauf.

Stop the Pounding Heart fokussiert auf Saras Perspektive. Ihr durchscheinendes Gesicht trägt die Geschichte. Widerstreitende Gefühle, offene Neugier und Faszination spiegeln sich darin. Sie ist hin- und hergerissen zwischen dem arbeitsamen Leben, das sie kennt  — sie baut mit dem Vater zusammen Zäune, verkauft mit der Mutter auf dem Markt Käse, ackert bis zur Erschöpfung — und der Ahnung eines Lebens jenseits des rigiden Regelwerkes, in dem sie aufwächst. Ihre Mutter kann nur für sie beten, dass Gott ihr wild pulsierendes Herz doch beruhigen möge.

Stop the Pounding Heart

Dokumentarfilm mit fiktionalen Anteilen oder Spielfilm mit Laiendarstellern? Alles eine Frage der Perspektive: Beim Filmfestival in Cannes wurde „Stop the Pounding Heart“ zwischen den anderen Spielfilmen des Programms als bescheidenes authentisches Coming-of-Age Drama mit Laiendarstellern und Cinema-verité-Anleihen wahrgenommen.
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