Sivas

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Hunde, wollt ihr ewig leben?

Auch wenn Frank Wisbars inhaltlich ziemlich ambivalenter Kriegsfilm von 1958 im ersten Moment sehr wenig mit Sivas zu tun zu haben scheint, so gibt sein vielzitierter Filmtitel recht gut das düster-pessimistische Weltbild in Kaan Müjdecis fulminantem Debütfilm wider. Mehrfach prämiert (u.a. mit dem Spezial-Preis der Jury in Venedig 2014), bot er Gesprächsstoff auf mittlerweile knapp 50 Filmfestivals weltweit – und wurde zuletzt sogar noch offizieller Oscar-Kandidat für die Türkei. Müjdecis Erstling für das Kino polarisiert und hat einen bemerkenswerten Siegeszug um die Welt angetreten: Ein Mann – ein Film – ein Kind – ein Lauf.
Umso erstaunlicher, dass er aus den Händen eines vorherigen Kino-Nobodys stammt, der bisher z.B. als Mitbetreiber eines ultrahippen Klamottenladens (Voo Coo) in der wuseligen Berliner Oranienstraße von sich reden machte. Dort wird beispielsweise mit Aktionen wie dem Cyber Monday um Käufer aus dem post-postmodernen Hauptstadtpublikum geworben, was gedanklich so gar nicht zur konzentriert-kontemplativen Stimmung in den unendlichen Weiten Anatoliens passt, wo die Spielhandlung von Sivas zum Großteil verortet ist.

Denn der Ton ist mitunter sehr rau im ersten Langfilm des Kreuzberger Mittdreißigers Müjdeci. Die Bilder von Armin Dierolf und Martin Solvang sind obendrein poetisch-präzise wie grausam-direkt. Mitten im Fokus: der elfjährige Junge Aslan, den Doğan Iczi erstaunlich männlich wie abgeklärt verkörpert. Eine erste Entdeckung innerhalb dieses Films, der quasi in jeder Einstellung vom erwachsenen Spiel des jungen türkischen Schauspielers dominiert wird. Die zweite Entdeckung ist der titelgebende Hund Sivas, ein weiß-verschwaschener Kangal. So werden die landestypischen Hirten- und Schäferhunde in der Türkei genannt: Klassische Herdenhunde, die führen, aufmerksam sind – und bei Bedarf ordentlich zubeißen können, was mehrfach wie ein Schlag in die Magengrube des Zuschauers in Szene gesetzt wird – Stichwort Hundekämpfe.

Nein, Sivas ist wahrlich kein Kinderfilm, was vor allem auch an der dritten Entdeckung innerhalb dieses Films liegt: dem Sounddesign. Purer, scheinbar ungeschminkter Atmo-Ton allenthalben. Musik? Fehlanzeige, nur zum Ende hin, wenn – wie im Vorübergehen und nur flüchtig – auf die atonale Klangkunst des frühen Arnold Schönberg verwiesen wird. Ansonsten knacken die Knochen und knarzt der Schnee. Jeder Tritt des kleinen Aslan auf einen Kieselstein wird deutlich wahrnehmbar, stets bewusst betont in dieser archaischen Männerwelt; eben Wo die wilden Kerle wohnen, um einen anderen berühmten Filmtitel heranzuziehen. Anders lässt sich diese manchmal krude, jedoch immer leidenschaftliche Initiationsgeschichte kaum in Worte fassen. Die Begegnung mit der ersten (Jugend-)Liebe Ayșe (Ezgi Ergin) bleibt dabei konsequenterweise lediglich ein Nebenstrang in Müjdecis verdichteter Regie, in der die dokumentarischen Wurzeln des Filmprojektes immer noch deutlich erkennbar durchscheinen: dem Spielfilm Sivas ging ursprünglich eine Dokumentarfilmarbeit voraus.

Dementsprechend stellt auch Müjdeci mehr Fragen – und verweigert erst recht viele Antworten. Liegt es allein an den offen patriarchal zelebrierten Machtstrukturen dieser hinterwäldlerischen Männergesellschaften, dass Aslans Mutter (Banu Fotocan) wie ein Fremdkörper in Erscheinung tritt? Warum wirken eigentlich die bluttriefenden Hundekämpfe wie reinigende Heilungsmaßnahmen in diesem starren, rückwärtsgewandten Gesellschaftsmodell? In Müjdecis karger Regie kommt ihnen mehrfach eine Schlüsselrolle zu, da der kleine Aslan so zum ersten Mal mit dem halbtot gebissenen Sivas in Berührung kommt – und ihn schließlich vatergleich aufzieht.

Ein viertes Plus ist schließlich die faszinierende Kameraarbeit des Duos Armin Dierolf und Martin Solvang: fein sezierend, Räume wie Weiten des zeitweise apokalyptisch anmutenden Hinterlandes ausspielend, entwickelt sie rasch eine eigene Dynamik des Hinsehen-Wollens. Je fremder, umso interessanter. Je archaischer, umso besser. Und als narrativer Kamera-Coup: vom Blickwinkel her fast durchgängig auf der realen Höhe des Jungen erzählt. Ob in den mystisch aufgeladenen Schneelandschaften oder in den ärmlichen Klassenräumen: stets mit wenig Headroom kadriert, oft in Over-Shoulder-Einstellungen und zum Teil sogar den subjektiven Blickwinkel Aslans einnehmend, wird auf diese Weise ein unbändiger Sog kreiert. Das Gerangel unter den Mitschülern wird so zum Beispiel physisch erlebbar; in der gelungenen Flirt-Szene mit Ayșe, in der beide Jungschauspieler vor der endlosen Weite Anatoliens auf dem Rücken liegen und sich nur zaghaft vorantasten, entstehen meisterhafte, schnörkellose Kinolandschaften vor dem Auge des Betrachters.

„Hunde haben auch eine Seele“, flüstert Ayșe ihrem jungen Verehrer zu. „Ich möchte der Prinz sein“, hatte ihr Aslan kurz zuvor schon eröffnet, offenkundig nicht nur in den Proben des parallel einstudierten Schultheaterspiels um die Sieben Zwerge. Nicht zuletzt sind es gerade jene zarten Momente im insgesamt hart-realistischen Erstlingsfilm des Kreuzbergers, die bereits auf mögliche zukünftige Taten des Debütanten verweisen: Auch Zwerge haben klein angefangen hieß bekanntermaßen Werner Herzogs zweiter längerer Spielfilm. Und Kaan Müjdeci hätte nach diesem Debüt zweifellos das Rüstzeug zum Riesen: Kein Hundeleben mehr. Nirgends.

Sivas

Auch wenn Frank Wisbars inhaltlich ziemlich ambivalenter Kriegsfilm von 1958 im ersten Moment sehr wenig mit „Sivas“ zu tun zu haben scheint, so gibt sein vielzitierter Filmtitel recht gut das düster-pessimistische Weltbild in Kaan Müjdecis fulminantem Debütfilm wider. Mehrfach prämiert (u.a. mit dem Spezial-Preis der Jury in Venedig 2014), bot er Gesprächsstoff auf mittlerweile knapp 50 Filmfestivals weltweit – und wurde zuletzt sogar noch offizieller Oscar-Kandidat für die Türkei.
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