Schellen-Ursli

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Herrliche Berge, sonnige Höhen

Frei und fröhlich ist das Leben auf der Alm im Unterengadin, wo Uorsin – wie er im Rätoromanischen heißt – für seine Eltern die Ziegen hütet. Er ist eins mit der Natur, kann sich gar mit dem Wolf verständigen. Der greift nicht nur seine Geißen nicht an, er springt auch beim endsommerlichen Abschied über Ursli und seine Freundin, die Seraina, hinweg, ein Moment von Schauer und Schönheit für die Kinder … Der Sommer kann nicht ewig dauern, der harte, bitterkalte Winter kommt. Und für Ursli bricht eine schwere Zeit an, die Feindseligkeiten des dörflichen Kaufmanns mitsamt Sohnemann nehmen überhand. Xavier Koller – 1991 Oscargewinner für sein Flüchtlingsdrama Reise der Hoffnung – baut seinen Schellen-Ursli gegenüber der gleichnamigen Kinderbuchvorlage gehörig aus und zeichnet ein Panorama zwischen bäuerlicher Lebensweise und Märchenhaftigkeit.
Die Volksmystik ist fast so stark wie der kirchliche Glaube, die Werte der bäuerlichen Moral von Ehre und Anstand sind traditionell verankert. Oben, in der Almhütte, hängt eine große Kuhglocke, die schützendes Glück gegen Lawinen bringen soll. Beim herbstlichen Abschied lässt man „für die armen Seelen“ ein Stück Brot da. Und Unglück lauert überall: Beim Almabstieg stürzt der Pferdekarren von Urslis Familie tief hinunter in eine Schlucht, das im Sommer geerntete Heu, so wichtig als Viehfutter, und der gereifte Käse, der als Einnahmequelle das Überleben sichert, sind hin. Urslis Familie ist auf Almosen angewiesen und darauf, dass der dörfliche Kaufmann anschreibt.

Koller gelingt eine gute Mischung aus nostalgischer Märchenhaftigkeit – der Film spielt in einem unbestimmten Früher – und der Härte des winterlichen Lebens in Schnee und Kälte. Dabei bleibt er in der Kinderperspektive: bei Ursli, der eine Ziege sein Eigen nennen darf, im Dorf beliebt ist und vom Schmied die größte Glocke beim Chalandamarz versprochen bekommt, beim uralten Frühlingsfest, bei dem die Kinder mit Lärm den Winter vertreiben. Und der einen Feind in dem Kaufmannssohn Roman hat, der um die Freundschaft mit Seraina buhlt, Ursli seine Ziege missgönnt und natürlich die große Glocke.

Als Antagonisten werden Roman und sein Vater recht spät im Film eingeführt, nach einer langen Exposition auf der sommerlichen Alm: Die beiden fischen den in die Schlucht gestürzten Käse aus dem Bergbach und verkaufen ihn, nehmen den Hunger und die Armut von Urslis Familie in Kauf. Als Mitwisser hat Roman ein Pfund gegen seinen Vater in der Hand, mit dem er wuchern kann, und es sind mit die besten Momente, wenn die beiden Schurken des Films sich gegenseitig in die Haare bekommen: Feindseligkeit macht auch vor Verbündeten nicht halt. Doch bleibt alles auf ungefährlichem Kinderniveau, es geht um die wichtigen Dinge in Urslis Leben, aber nicht um sein Leben oder seine Gesundheit. Gefährlich wird es im Film vor allem am Schluss, wenn Koller auf die Buchvorlage zurückkommt.

Schellen-Ursli, die Kindergeschichte von Selina Chönz, ist nach Heidi das bekannteste Schweizer Kinderbuch. Erzählt wird von dem Spott der Dorfjugend über Ursli, der zum Chalandamarz nur eine kleine Schelle bekommt, der dann durch Schnee und Kälte hinaufsteigt auf die Alm und mit der enormen Kuhglocke ins Tal zurückkehrt. Interessant ist, dass Koller für seine Verfilmung diesen Grundplot quasi immanent als bekannt voraussetzt, ohne je angestrengt darauf abzuzielen: Recht natürlich entwickelt sich eines aus dem anderen, und das ist mehr, als über viele Kinderfilme gesagt werden kann, die ihre Vorlage oft durch aufgesetzte Episoden erweitern, nur, um auf Spielfilmlänge zu kommen. Kleiner Nachteil bei Kollers Ansatz: Dem Uneingeweihten erschließt sich die Handlungsmotivation von Ursli erstmal nicht, wenn er nach dem Spott hinauswandert in den Schnee, den Berg hinauf, über eine gefährlich baufällige Brücke … Doch das Entsetzen der Dorfbewohner beim Lawinenabgang, während Ursli vermisst wird; die bäuerliche Abscheu vor den Missetaten des Kaufmannes, der ja zudem noch Gemeindepräsident ist, die werden greifbar und glaubwürdig herübergebracht.

Schellen-Ursli

Frei und fröhlich ist das Leben auf der Alm im Unterengadin, wo Uorsin – wie er im Rätoromanischen heißt – für seine Eltern die Ziegen hütet. Er ist eins mit der Natur, kann sich gar mit dem Wolf verständigen. Der greift nicht nur seine Geißen nicht an, er springt auch beim endsommerlichen Abschied über Ursli und seine Freundin, die Seraina, hinweg, ein Moment von Schauer und Schönheit für die Kinder … Der Sommer kann nicht ewig dauern, der harte, bitterkalte Winter kommt.
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