Revision

Eine Filmkritik von Lida Bach

Rekonstruktion eines "Unfalls"

Ein Getreidefeld nahe dem ländlichen Nadrensee in Mecklenburg-Vorpommern. Ein böiger Tag. Die Windräder, die sich über dem Feld drehen, bezeugen es. Hätte sie vor zwanzig Jahren gestanden, wären sie noch anderer Dinge Zeugen. Die findet Philip Scheffner unter Angehörigen, Ortsansässigen und Ermittlern. Das eindringlichste Zeugnis aber ist sein Film, der die Beschränkungen der Reportage überwindet und auf der Leinwand eine inoffizielle Rechtschreibung aufzeigt, der Protagonisten, Judikative und Exekutive gleichermaßen folgten. Sie alle unterziehen sich vor der Kamera ihrer vom Regisseur aufgenommenen Zeugenaussagen der aufwühlenden „Revision“ des Titels.
Damit eine Zeugenaussage zu Stande kommen kann, erklärt der für seine Dokumentararbeit in Der Tag des Spatzen und The Halfmoon Files mehrfach ausgezeichnete Regisseur in einem Pressestatement, genügt die Wahrnehmung eines Tatvorgangs nicht. Es braucht einen Zuhörer, der selbst Zeuge wird, indem er die Aussage aufnimmt. Diese Doppelung vollzieht sich sowohl in der Konfrontation mit Scheffner als auch der Kamera und wird durch das Anhören und mögliche Ergänzen des Gesagten durch die Protagonisten einer weiteren Doppelung unterworfen. Sie alle zusammen konditionieren den Filmtitel, der sich zugleich auf das Wiederaufrollen eines Verbrechens bezieht.

Mannshoch steht das Korn, so dass ein Mensch darin verschwinden könnte. So wie Grigore Velcu und Eudace Calderar. Ihre Namen stehen in den Akten des nach drei Jahren angesetzten Prozesses. Es gab zwei Angeklagte und keinen Schuldigen — zumindest nicht im Sinne der Rechtsprechung, der man nach Scheffners filmischer Revision diesen Namen absprechen möchte. Gerechtigkeit fand nicht statt in dem Justizfall, der die Namen Velcu und Calderar und zweier Anwohner verbindet. Zwei Rumänen, zwei Deutsche.

Niemand von ihnen spricht vor der Kamera. Die zentralen Figuren sind Unsichtbare, die nur auf alten Fotografien, vertreten durch einen Anwalt oder die schriftliche Ablehnung eines Gesprächs auftreten. Die Angeklagten wollen nicht sprechen, die Opfer können es nicht mehr. Sie sind tot. An ihrem gemeinsamen Todestag, dem 29. Februar 1992 stand das Korn niedriger.

„Damals wuchs hier Wintergerste“, erinnert sich der Bauer. So hoch sei die gewesen, sagt er und hält die Hand unterhalb der Hüfte. Am Ende des Tages wuchs nichts mehr. „Hinter ihnen stand das Feld in Flammen“, sagt Scheffner über die Mäher, die zwei männliche Leichen fanden. Bereits diese erste Aussage zeigt sich brüchig unter dem präzisen journalistischen Abklopfen. Vielleicht lebte einer von ihnen noch, nachdem die Schüsse fielen. Bereits am Tatort schloss die Polizei, dass sie von einer Jagdwaffe abgefeuert wurden. „Brechen Sie die Filmaufnahmen hier ab“, bittet der heute erwachsene Sohn eines der Toten. „Jeder sollte für sich reden. Als Regisseur wissen Sie, wie das geht.“ Scheffner weiß es und setzt ein beklemmendes und traurig aktuelles Dokument: von Hinterbliebenen, die nie von dem Verfahrenen erfuhren, weil sie laut Justiz „im Prozess keine Rolle spielen“, von Anwohnern, die sich über den Pogrom gegen ein Asylheim „köstlich amüsierten“ und „Menschen, die einfach ein Zeichen setzen wollten.“

14.687 Menschen starben laut der NGO „Fortress Europe“ zwischen 1988 und 2009 an der EU-Grenze. Zwei von ihnen sind Eudace Calderar und Grigore Velcu. Jäger hätten zwei illegale Einwanderer mit Wildschweinen verwechselt. Der Vorfall, den Revision mit kriminologischem Scharfsinn rekonstruiert, ereignete sich nahe der deutsch-polnischen Grenze, die zum Tatzeitpunkt auch die der EU war. Dahinter aber wird eine andere Grenze erahnbar, die zwischen Gegenwart und einer finsteren Vergangenheit verläuft, zwischen Aufklärung und Abscheu erregendem braunem Gedankengut. 612 Menschen seien allein im Juni des gleichen Jahres in der Region bei der illegalen Einreise aufgegriffen worden, heißt es.

Viele Ortsansässige, erinnert sich eine Beamtin, verzichteten aufgrund der Möglichkeit, einen von ihnen vor die Flinte zu kriegen, auf die Jagd. Andere, daran erinnert Revision, sind deswegen auf die Jagd gegangen.

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Ein Getreidefeld nahe dem ländlichen Nadrensee in Mecklenburg-Vorpommern. Ein böiger Tag. Die Windräder, die sich über dem Feld drehen, bezeugen es. Hätte sie vor zwanzig Jahren gestanden, wären sie noch anderer Dinge Zeugen. Die findet Philip Scheffner unter Angehörigen, Ortsansässigen und Ermittlern. Das eindringlichste Zeugnis aber ist sein Film, der die Beschränkungen der Reportage überwindet und auf der Leinwand eine inoffizielle Rechtschreibung aufzeigt, der Protagonisten, Judikative und Exekutive gleichermaßen folgten.
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