Picco

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Bestie Mensch

Die Entmündigung, Demütigung und systematische Verdinglichung beginnt für Kevin (Constantin von Jascheroff) gleich in den ersten Tagen seines Aufenthalts in der JVA. Für den dominanten Marc (Frederick Lau) und den eher bedächtig-intellektuellen, aber nicht minder dominanten Andy (Martin Kiefer) ist er in der überbelegten Zelle, die eigentlich nur für zwei Insassen vorgesehen ist, der „Picco“, der Neue, der die ganze Drecksarbeit machen muss. Einzig der sensible Tommy (Joel Bassmann), der Vierte in der Zelle, interessiert sich für den Neuling, er macht ihm aber auch schnell klar, dass sie beide in der rüden Knasthierarchie des Jugendgefängnisses ganz unten stehen. Wie man trotzdem überlebt in dieser Atmosphäre latenter Gewalt, die sich jederzeit entladen kann (und dies auch immer wieder tut), lernt Picco schnell – indem die Meute einen anderen, noch schwächeren Gefangenen ausmacht und diesen als Sündenbock für die eigene Ohnmacht und die damit einhergehenden Frustrationen benutzt.
In dem Knast, in dem Picco einsitzt, ist das Juli (Willi Gerke), von dem durch einen dummen Zufall bekannt wird, dass er auf dem Schwulenstrich verhaftet wurde. Als dies publik wird, ist die „Schwuchtel“ der Prügelknabe des Gefängnisses, er wird zusammengeschlagen, mehrfach vergewaltigt und systematisch fertiggemacht, ohne dass einer der Wärter oder die Psychologin eingreifen. Julis Leid bedeutet für Picco und Tommy zunächst eine kleine Atempause: weil sie aber gezwungen werden, dem entsetzlichen Treiben hilflos zuzuschauen, werden sie gegen ihren Willen zu Komplizen und Mitwissern. Als Juli die ständigen Attacken nicht mehr aushält und sich umbringt, ist es auch mit Piccos und Tommys Ruhe vorbei, denn Marc, Andy und all die anderen Insassen brauchen ein neues Opfer. Und die beiden wissen, dass sie dem nur entgehen können, wenn sie den jeweils anderen systematisch degradieren – der letzte Rest an Solidarität wird in einem mörderischen Überlebenskampf geopfert, an dessen Ende eine ungeheure Tat steht.

Philip Kochs Abschlussfilm Picco ist beileibe keine leichte Kost und zugleich einer der beeindruckendsten deutschen Filme dieses Jahres. Auch wenn man ihn zwischenzeitlich kaum aushält. Basierend auf mehreren realen Fällen, die sich in den letzten Jahren in deutschen Gefängnissen ereigneten, zeichnet der Regisseur ein ebenso realistisches wie niederschmetterndes Bild der Lage in den deutschen Gefängnissen.

Kochs kühl-taxierender Blick in das Innenleben eines Gefängnisses gleicht dabei beinahe einer ethnologisch-anthropologischen Versuchsanordnung, die bei aller subtilen Kritik am System des Wegsperrens zugleich einen erschreckenden Blick auf alle Zwangssysteme wirft, in denen Menschen erniedrigt, entrechtet und verdinglicht werden. Das wirklich Entsetzliche ist hierbei genau das, was wir auch in der Realität immer wieder ungläubig feststellen müssen – dass der Mensch des Menschen ärgster Feind ist, dass wir alle dem Herdentrieb folgend umbarmherziger und gnadenloser mit Schwächeren umgehen als beinahe jede Tierart.

Die Wirkung des Films beruht aber nicht nur auf seiner Allgemeingültigkeit, sondern vor allem auf der Strategie von Kochs Gewaltdarstellung. Die ist nämlich keinesfalls so explizit, wie man dies empfindet – im Gegenteil. Zu Beginn des Films geschieht beinahe alles jenseits der Leinwand oder wirkt durch Unschärfen (wie etwa bei der Vergewaltigung Julis in der Wäscherei) beinahe gemildert. Ganz langsam steigert sich Picco hinsichtlich der Gewaltdarstellung und zieht den Zuschauer so fast unmerklich in einen Strudel, aus dem es schließlich weder für die Beteiligten noch für das Publikum eine Möglichkeit des Entkommens gibt. In de Enge der Zelle wird der Zuschauer selbst beinahe zwangsläufig zum Komplizen, zum Mittäter, zu demjenigen, der gezwungen ist, zuzusehen. Es ist nicht die Deutlichkeit der gezeigten Gewalt, die uns erschreckt, sondern das Gefühl der Ohnmacht, das wir dabei empfinden.

Selbst am Ende sehen wir bei Picco kaum etwas, was man nicht bereits in vielen anderen Filmen tausendfach expliziter und vor allem zum Zwecke des „Amüsements“ konsummiert hätte. Dennoch ist der Eindruck, den die unglaublichen Quälereien bei uns hinterlassen, ungleich stärker und bleibender als in all der Gewalt, die wir sonst medial um die Ohren geschlagen bekommen. Weil seine Gewalttätigkeit sich nicht nur auf Taten beschränkt, sondern sich vor allem über die Sprache und den Umgang miteinander offenbart. Die Palette sprachlicher Gewalt, die der überaus reflektierte Andy gegenüber der Psychologin auch thematisiert, reicht von dem mittlerweile in der Jugendsprache gängig gewordenen Ausdruck „Opfer“ bis hin zu unsäglich zynischen Empfehlung der beiden Haupttäter Marc und Andy an Tommy, er möge sich „weghängen“. Einfacher und bezeichnender lässt sich die systematische und systemisch bedingte Menschenverachtung im Gefängnis kaum auf den Punkt bringen. Wer sich angesichts dieser Allgegenwart von Brutalität einzig auf die vermeintlich konkret gezeigte Gewalt des Filmes bezieht und diese kritisiert, hat nichts verstanden.

Bereits Uwe Boll hatte sich mit seinem Film Siegburg an den Vorkommnissen in der dortigen JVA versucht, auf die sich auch Philip Koch bezieht, war aber über blanken Voyeurismus nicht hinausgekommen. Kochs beim Max-Ophüls-Festival ausgezeichneter und auch in Cannes viel beachteter Film hingegen ist viel ausbalancierter, subtiler, klüger und erschütternder, als Boll dies jemals zu realisieren in der Lage wäre.

Zu verdanken sind Piccos immense Qualitäten nicht allein der klugen und sensiblen Regie Philip Kochs, der auch das Drehbuch zu diesem Film schrieb. Neben der exquisiten Kameraarbeit von Markus Eckert ist es vor allem das Ensemble, allen voran die vier Zellengenossen, die einen Großteil der Faszination des Films ausmachen. Neben Constantin von Jascheroff, der die Unentschiedenheit und Unsicherheit des „Neuen“ mit beklemmender Souveränität nachzeichnet, ist hier vor allem Frederick Lau zu nennen, der es nicht nur in diesem Film schafft, das Böse auf ebenso faszinierende wie abstoßende Weise zu verkörpern. Martin Kiefer bildet als subtiler Intrigant und gewiefter Manipulator die ideale Ergänzung zu der vor allem triebgesteuerten Aggression Marcs. Und Joel Bassmanns nervös-fiebrige Darstellung von Tommy findet genau die richtige Balance zwischen Sensibilität und Verletzbarkeit auf der einen sowie purem Überlebensinstinkt auf der anderen Seite.

Verdeutlicht man sich diese fein austarierte Figurenkonstellation, wird spätestens hier klar, dass das Verbrechen, von dem Picco erzählt, überall dort passieren kann, wo Menschen mit ähnlichen Charaktereigenschaften und unter ähnlichem Druck stehend aufeinander treffen. Das wahre Gefängnis ist kein Ort, sondern die Beschränktheit des Menschen, seine Manipulierbarkeit, Rücksichtslosigkeit und seine verhängnisvolle Veranlagung, dem Anderen das Leben zur Hölle zu machen. Auch wenn Marc in einem der Dialoge vor allem das Gefängnis und den niederschmetternden Status als Straffälliger meint, als er Kevin klar macht, dass es keine Welt mehr da draußen gibt – man ist geneigt, diese Aussage nicht allein auf den Knast zu beziehen, sondern auszuweiten auf ähnliche gelagerte Konstellationen, in denen Menschen auf Gedeih und Verderb aufeinander losgelassen werden.

Picco ist schlichtweg die deutsche Entdeckung des Jahres und ein Film, der allen Unwägbarkeiten bezüglich der weiteren Karriere seines Schöpfers zum Trotz dauerhaft Bestand haben wird.

Picco

Die Entmündigung, Demütigung und systematische Verdinglichung beginnt für Kevin (Constantin von Jascheroff) gleich in den ersten Tagen seines Aufenthalts in der JVA. Für den dominanten Marc (Frederick Lau) und den eher bedächtig-intellektuellen, aber nicht minder dominanten Andy (Martin Kiefer) ist er in der überbelegten Zelle, die eigentlich nur für zwei Insassen vorgesehen ist, der „Picco“, der Neue, der die ganze Drecksarbeit machen muss.
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Meinungen

Linus Hirschi · 20.04.2011

...witzig dass da tatsächlich ein Fehler war, ich dachte nämlich auf den ersten Blick, dass "BRILLANT", wie der Film genannt wird auch falsch ist, aber da scheint man falsch zu glauben,,,

Faouzi · 10.02.2011

Ohne jetzt hier einen auf Bastian Sick machen zu wollen ... Auf die Unterzeile am Ende des Trailers: "Basierend auf wahre Begebenheiten" hätte vielleicht noch mal jemand mit mindestens rudimentären Grammatikkenntnissen einen Blick werfen sollen.

Heinz Wattenberg · 02.02.2011

lesen Sie mein Buch:
Arbeitstherapie im Jugendstrafvollzug. = erfolgte Unterdrückungen, die ich in 20jähriger Arbeit in der JVA Hameln erfahren habe als Arbeitstherapeut.