Oslo, 31. August (2011)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Der letzte Tag im Leben

„Ich bin 34 Jahre alt. Ich habe nichts.“ Das ist die Selbsteinschätzung von Anders (Anders Danielsen Lie), der in zwei Wochen eine Entziehungskur in einer Drogenklinik abschließen wird. Er gilt als clean und darf für einen Tag die Klinik auf dem Land verlassen, um für ein Vorstellungsgespräch in die Stadt zu fahren. Kurz zuvor hat er versucht, sich mit Steinen in der Tasche in einem See zu ertränken. Dieses Mal ist er wieder aufgetaucht. Aber alles deutet darauf hin, dass der Tag in Oslo für ihn zu einem Abschied wird.

Anders stammt aus einem gutbürgerlichen Elternhaus und kennt seine Fähigkeiten und Möglichkeiten ganz genau, aber er ist nicht in der Lage, sie zu nutzen. Nun sucht er an dem Tag, den er in Oslo verbringt, alte Freunde auf, die mitten im Leben stehen. Sie haben die typischen Probleme der Mittdreißiger – und ihre Lebensentwürfe führen Anders vor Augen, wie viele Chancen er schon verpasst hat. So lebt Thomas (Hans Olav Brenner) mit einer Frau zusammen und hat zwei Kinder. Sein Leben verläuft in halbwegs geregelten Bahnen, es könnte aufregender sein, aber er ist zufrieden. Deshalb rät er auch Anders, nicht weiter seinen Träumen hinterher zu jagen, sondern sich mit dem Möglichen zufrieden zu geben. Denn so sei das Leben nun einmal.

Doch Anders steht längst außerhalb dieses Lebens. Nach dem Gespräch mit Thomas lässt er sich weiter durch Oslo treiben und landet in einem Café. Er sitzt alleine an seinem Tisch, um ihn herum größere und kleinere Gruppen von Menschen, die sich unterhalten. Er ist als Außenstehender inszeniert, der lediglich Fetzen dieser Gespräche mitbekommt. Sie drehen sich um Liebeskummer und Beziehungsprobleme, um die Träume zweier Teenager-Mädchen. Anders folgt diesen Gesprächen mit dem Lächeln eines Menschen, der längst entschieden hat, dass er in diesem Leben keine Träume mehr braucht.

Stattdessen will er reinen Tisch machen. Doch seine Schwester trifft sich nicht mit ihm, und seine große Liebe erreicht er in New York nicht. Also landet er auf einer Party, lernt zwei Mädchen kennen und irrt mit ihnen durch die Stadt. Erlösung findet er auf diese Weise nicht, doch vermutlich hat er sie auch gar nicht gesucht. Denn alle aufmunternden Worte, die Möglichkeit eines Jobs, haben keine Wirkung auf ihn. Je mehr er sich mit anderen Menschen umgibt, desto deutlicher wird, dass er nicht mehr dazu gehört. Er scheint sich davon befreit zu haben, sich selbst etwas beweisen zu müssen. Und das lässt allen Anzeichen zum Trotz ein wenig Hoffnung aufkommen.

Oslo, 31. August ist eine Adaption des Romans Le feu follet, der zuvor von Louis Malle unter dem deutschen Titel Das Irrlicht verfilmt wurde. Es sind Chroniken eines angekündigten Selbstmordes, doch unter der Regie von Joachim Trier wird diese Geschichte zugleich zu einem subjektiven Porträt der Stadt Oslo und der Generation der Mittdreißiger. Dabei korrespondieren die betörenden Bilder der Stadt mit dem Seelenzustand des Protagonisten. Oslo ist voller faszinierendem Licht, aber auch die beginnende winterliche Kälte ist in den Bildern zu spüren. Gleichermaßen verkörpert Anders Danielsen Lie die tiefe Resignation der Hauptfigur, dabei gelingt es Joachim Trier, dass sein Protagonist niemals selbstmitleidig, sondern einfach nur radikal ehrlich wirkt.

Im Gegensatz zu Joachim Triers bemerkenswertem Debütfilm Auf Anfang (…reprise) ist Oslo, 31. August sehr konzentriert erzählt. Der äußere Ablauf ist durch den einen Tag vorgegeben, den dieser Protagonist noch zu leben hat – und seine Vergangenheit rekonstruiert sich aus den Gesprächen, die er im Verlauf dieses Tages führt. Dabei entwickelt der Film über seine erzählerische Konzentration eine melancholische Sogkraft, der man sich kaum entziehen kann. Und so ist Oslo, 31. August vielleicht nicht von der innovativen Brillanz, die Auf Anfang auszeichnete. Aber dank seiner formalen Strenge ist er ein bemerkenswerter Film, der lange im Gedächtnis bleibt.
 

Oslo, 31. August (2011)

„Ich bin 34 Jahre alt. Ich habe nichts.“ Das ist die Selbsteinschätzung von Anders (Anders Danielsen Lie), der in zwei Wochen eine Entziehungskur in einer Drogenklinik abschließen wird. Er gilt als clean und darf für einen Tag die Klinik auf dem Land verlassen, um für ein Vorstellungsgespräch in die Stadt zu fahren. Kurz zuvor hat er versucht, sich mit Steinen in der Tasche in einem See zu ertränken.

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