Noordzee, Texas (2011)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Zeit der ersten Liebe

Pim war schon immer irgendwie anders, seitdem er denken an. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Mittlerweile ist Pim (Jelle Florizoone) 14 Jahre alt und lebt zusammen mit seiner lebenslustigen Mutter (Eva van der Gucht) in einem kleinen Kaff an der belgischen Nordseeküste, in dem es außer der Dorfkneipe namens „Texas“ kaum etwas gibt. Für Pims Mutter nicht und für ihn erst recht nicht – wenn man einmal von den Kleidern der Mutter, ihren Schminksachen und dem Diadem absieht, das Pim gerne mal heimlich aufsetzt und sich hinwegträumt aus diesem schrecklichen Ort. Und es gibt Gino (Mathias Vergels), den etwas älteren Nachbarsjungen, in den sich Pim schnell verliebt und dessen Familie ihm den Halt und die Sicherheit gibt, die er zuhause nicht vorfindet. Dann, in der Nacht zu seinem 15. Geburtstag, geschieht endlich das, wonach sich Pim schon so lange heimlich gesehnt hat – sein erstes Mal mit Gino. Der aber will aus dem Ganzen ein Geheimnis machen. Und später zieht er weg aus dem Ort nach Dünkirchen – und zwar wegen eines Mädchens, so dass Pim allein und unglücklich zurückbleibt.

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Um der Einsamkeit und seiner eigenen Behausung zu entkommen, schaut Pim auch nach Ginos Verschwinden immer wieder bei dessen kranker, aber herzlicher Mutter Marcella (Katelijne Damen) vorbei, was Ginos Schwester Sabrina (Nina Marie Kortekaas) quält. Sie hat sich nämlich in den schüchternen Jungen von nebenan verliebt und weiß doch zugleich, dass der nur Augen für ihren eigenen Bruder hat.

Dann taucht Zoltan (Thomas Coumans) auf, ein Schausteller, der mit dem Zirkus durch die Lande zieht – und prompt verliebt sich Pim in den attraktiven Kerl, der auch von Yvette umgarnt wird. Und plötzlich ist auch Gino wieder da und für Pim ist es an der Zeit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen – zumal seine Mutter mit Zoltan abhaut. Es ist an der Zeit, erwachsen zu werden.

Seit seinen mehrfach ausgezeichneten Kurzfilmen Saint (1996), Sailor (1998) und Campfire (2000) galt der 1971 geborene flämische Filmemacher Bavo Defurne als hoffnungsvolles Talent des europäischen queeren Kinos, doch seit den Erfolgen blieb es lange ruhig um den Filmemacher. Umso erfreulicher ist es nun, dass Defurne seine Stilistik weiter ausgebaut und weiterentwickelt hat und den ästhetischen Faden seiner vorherigen Werke mühelos wiederaufnimmt. Mit sicherem Auge für die Feinheiten und Details und großem Willen zur behutsamen Stilisierung gießt er seine Coming-of-age/Coming-out-Geschichte in sorgsam arrangierte Bilder, denen man gerne folgt und die bei aller Schönheit eigentlich niemals die Grenze zum Kitschigen überschreiten. Farblich herrschen bunte Pastelltöne vor, die die Sechzigerjahre mit sichtbarer Nostalgie zum Leben erwecken, die oftmals symetrisch aufgebauten Kameraeinstellungen lassen etwas von dem Zeitgeist und der Enge und Erstarrung des Lebens auf dem Land erahnen.

Inhaltlich freilich kommt man nicht umhin festzustellen, dass Defurne wenig Neues zu bieten hat. Zwar sind in der Geschichte, die auf einer Vorlage von André Sollie beruht, genügend Fragestellungen und konfliktträchtige Konstellationen eingebaut, doch die meisten dieser dramaturgisch sauber platzierten Fallstricke werden allenfalls angedeutet und können so ihr Spannungspotenzial nicht entfalten. Wenn sich beispielsweise Ginos Schwester Sabrina in Pim verliebt und von diesem zurückgewiesen wird, läge hierin eine gewaltige Chance, die Nöte und Sorgen aller Beteiligten weiter auf die Spitze zu treiben. Doch statt dies zu forcieren, scheint es hier und an manchen anderen Stellen beinahe so zu sein, als wolle Defurne seinen kleinen Protagonisten vor zu viel Ungemach bewahren.

Trotz der behutsamen Inszenierungsweise und Defurnes unverkennbarem Blick für schöne Details und ausdrucksstarke Bilder wünscht man sich ab und an ein wenig mehr vom grellen Sozialrealismus Felix van Groeningens, dessen Film Die Beschissenheit der Dinge ebenfalls ein Heranwachsen in der flämischen Provinz schilderte. Allerdings mit mehr Sinn für soziale Milieus und gesellschaftliche Verwerfungen, als dies Bavo Defurne zu leisten imstande (oder willens) ist. So mutet Noordzee, Texas unterm Strich beinahe wie ein Tagtraum an, eine nostalgische Erinnerung, bei der die Schmerzen der Selbstfindung und des Heranwachsens gemildert werden durch ein weiches Licht und die Gewissheit, dass alles gut wird – irgendwann.
 

Noordzee, Texas (2011)

Pim war schon immer irgendwie anders, seitdem er denken an. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Mittlerweile ist Pim (Jelle Florizoone) 14 Jahre alt und lebt zusammen mit seiner lebenslustigen Mutter (Eva van der Gucht) in einem kleinen Kaff an der belgischen Nordseeküste, in dem es außer der Dorfkneipe namens „Texas“ kaum etwas gibt.

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