Nocturama

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Bilder aus dem Hier und Jetzt

Man könnte sagen, dass Bertrand Bonello mit Nocturama einen Film zum Thema Terror gemacht hat. Die Worte „Film zum Thema“ klingen allerdings nach einem Erklärstück – und ein solches ist Nocturama ganz gewiss nicht geworden. Wobei es wohl auch nicht zu erwarten war, dass Bonello (Der Pornograph, Haus der Sünde) etwas Derartiges drehen würde. In der ersten Hälfte des Werks gibt es eine Szene, in der ein Student (Martin Petit-Guyot) die Standardgliederung eines politikwissenschaftlichen Aufsatzes erläutert. An einer Stelle des Textes sei dabei – wie er meint – sogar Platz für eine gewagte These, sofern alles im Rahmen bleibe und seine formale Richtigkeit habe. Man kennt die kinematografischen Entsprechungen dieser Aufsätze zur Genüge. Sie mögen ehrenwert und lehrreich, in manchen Fällen auch durchaus gut gemacht sein; eine herausfordernde audiovisuelle Erfahrung bieten sie aber nur selten.

Bonello ist es indes mit Nocturama gelungen, einen Film vorzulegen, der unsere Zeit in bezwingenden Bildern und Tönen erfasst und erspürt – der sie zu begreifen scheint, ohne den Drang zu haben, sie auch uns begreiflich machen zu müssen. Nocturama ist ein aktueller Film, der sich kaum um Aktualität im Sinne einer Bezugnahme auf Namen, Daten und Ereignisse schert. Die Dreharbeiten fanden vor dem 13. November 2015 statt – bevor es zu den jüngsten Terroranschlägen innerhalb und außerhalb Europas kam; das Skript soll Bonello gar schon vor mehreren Jahren verfasst haben. Und doch muss man lange überlegen, ehe einem ein (Spiel-)Film einfällt, der einem auf vergleichbare Weise im Moment der Sichtung das Gefühl zu geben vermochte, gerade auf der Leinwand etwas von dem Hier und Jetzt abseits der Leinwand, den Personen, Dingen, Stimmungen und Atmosphären, die einen unmittelbar umgeben, zu erleben.

Der in zwei Akte aufgeteilte Film beginnt mit Luftaufnahmen von Paris, ehe es in die Tiefen der Métro geht – und somit vom Überblick in den Untergrund (und dann wieder hinaus auf die Straßen und hinein in hohe Gebäude). Wir hören im Laufe dieses ersten Akts kaum Dialoge, nur immer wieder den von Bonello selbst komponierten Elektro-Score sowie die Ansagen der eintreffenden U-Bahnen oder kommenden Haltestellen und die Geräusche des urbanen Raums. Wir sehen junge Menschen, männlich und weiblich, die teils mit angespanntem, teils gelassenem und teils leerem Blick in der Stadt unterwegs sind. Sie schauen auf die Displays ihrer Mobiltelefone, schießen Fotos, schreiben Textnachrichten und werfen die Geräte weg. Wiederholt wird die Uhrzeit eingeblendet. Nach und nach erschließt sich einem, dass diese Gruppe, die sowohl ethnisch als auch hinsichtlich des sozioökonomischen Status recht heterogen wirkt, eine Einheit bildet, die einen gemeinsamen Plan verfolgt. Die Umsetzung dieses Plans ist jedoch nicht in der Art und Weise inszeniert, wie man es etwa von klassischen heist movies gewohnt ist: Die Kamera interessiert sich weniger für bestimmte Handgriffe oder die eingesetzten Ausrüstungsgegenstände, sondern vielmehr für die Gesichter der Beteiligten. In einigen US-Kritiken wird Nocturama mit Gus Van Sants Elephant (2003) verglichen; Bonello vermeidet im Gegensatz zu Van Sant aber eine stereotype Darstellung seiner Figuren und ist beim Aussparen von Erklärungen noch konsequenter. Man solle nach seinem Tod eine Autopsie vornehmen, schreibt eines der Mitglieder der jungen Gruppe auf einen Zettel – um zu untersuchen, ob er geisteskrank war. Der Film erlaubt sich zu dieser Frage kein Urteil. Die einzelnen Mitglieder erhalten zwar jeweils nur ein Minimum an Hintergrund; in eine Schublade wird indes keine der Figuren gesteckt.

Was in der ersten Hälfte von Nocturama vorbereitet wird, ahnt man rasch; wir nehmen Notiz von Taschen, Tüten, Paketen und Waffen. Zudem gibt es kurze Zeitsprünge in die Vorgeschichte der Clique, die sich nicht als Terror-, sondern eher als Revolutionsgruppe wahrzunehmen scheint. Die zweite Hälfte widmet sich dann nicht dem stadtweiten Schrecken, den diese Gruppe durch ihre Aktion verursacht, sondern schildert ein Kammerspiel mit einem geschlossenen Luxus-Kaufhaus als Kulisse. Die Filme, an die in diesem Teil gemahnt wird, reichen von Dawn of the Dead (1978) über diverse John-Carpenter-Arbeiten bis hin zu Flashdance (1983), hinzu kommen Songs von Willow Smith, Blondie und anderen Künstler_innen, Momente der Taubheit und Angst, der Maßlosigkeit und Theatralik, der Zärtlichkeit und Gewalt sowie die vielen Absurditäten, die ein Shoppingcenter als Mischung aus Eldorado und Käfig bereithält. Nocturama ist keine Studie unserer Zeit; er ist ein eindrückliches Beispiel für die Möglichkeiten der Cineastik, auf die Gegenwart zu reagieren und über sie zu reflektieren.

Nocturama

Man könnte sagen, dass Bertrand Bonello mit „Nocturama“ einen Film zum Thema Terror gemacht hat. Die Worte „Film zum Thema“ klingen allerdings nach einem Erklärstück – und ein solches ist „Nocturama“ ganz gewiss nicht geworden. Wobei es wohl auch nicht zu erwarten war, dass Bonello („Der Pornograph“, „Haus der Sünde“) etwas Derartiges drehen würde.

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Meinungen

Martin Zopick · 11.02.2020

Ein gedanklich gefährliches Konstrukt, das mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert. Gefährlich, weil durchaus denkbar. Eine Gruppe Jugendlicher von unterschiedlicher sozialer Herkunft legt in Paris Bomben und tötet den HSBC Präsidenten. Danach lassen sie sich nach Ladenschluss in einem Nobelkaufhaus einschließen. Die Terroristen genießen den Luxus in vollen Zügen. Verbringen also eine Nacht im Überfluss. Bis die Polizei eintrifft und wie beim Moorhuhn Videospiel einen nach dem anderen erschießt. Technisch sind die Einstellungen durchaus gelungen. Oder wenn vom goldenen Reiterstandbild der Jeanne d’Arc Tränen kullern.
Alles geschieht unkommentiert, äußerst distanziert, von wenigen Momenten abgesehen ohne Emotionen. Da ist es erstaunlich, dass die Kids nach den ersten Schüssen Angst bekommen. Angst vor der eigenen Courage. Hätten sie sich das nicht denken können? Können die Jugendlichen nur so weit denken, wie ein Lama spucken kann? Während man noch darüber grübelt, was die Kids zu dieser Aktion veranlasst haben könnte, läuft bereits der Abspann. Unkommentiert.
Werden hier die Terroristen – falls es welche sind – zu Konsumterroristen?
Ist unser Luxus nur geliehen?
Kann ihn sich jeder holen? Er muss sich nur trauen?
Ist das Ganze nur ein Zeitvertreib für die Youngsters, aus der Langeweile geboren?
Wollen sie erfahren, wie es ist superreich zu sein?
Ist das Ganze Ausdruck von Systemverdrossenheit?
Einen netten Gag am Rande ließ sich Regisseur Bonello noch einfallen: die Jugendlichen laden ein Pennerpärchen ein, das es sich im Luxustempel mal richtig gut gehen zu lassen soll. Soziale Geste? Anzeichen von Solidarität? Viele offene Fragen! Nur eins steht fest: im Abspann gibt’s den Titelsong von John Barry aus der Serie ‘Die Zwei‘.