München - Geheimnisse einer Stadt

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Im Kaleidoskop

„Hier spielt sich der eigentliche Film über die Stadt München ab“, so heißt es einmal gegen Ende von Dominik Grafs und Michael Althens Filmessay München — Geheimnisse einer Stadt. Dann zeigt die Kamera das Video-Kontrollzentrum der Münchner Verkehrsleitzentrale. Für einen kurzen Moment ist man gewillt diese Bilderfolge und den Off-Text als politischen Kommentar zu lesen. Die 1000 Augen des Doktor Mabuse kommen einem in den Sinn, Big Brother ebenso. Hier die anonymen Kontrolleure mit dem alles erfassenden Blick und dort die unbescholtenen Bürger, die sich ihrer Überwachung gar nicht gewahr werden. Doch dem Regisseur Graf und dem Filmkritiker Althen geht es hier nicht um Beschränkung und Gefahr, sondern vielmehr um eine seltene Freiheit — die Freiheit des Blicks.
In jedem Monitor spiegelt sich nämlich eine mögliche Geschichte der Stadt München wieder. Schlendernde Frauen in der Einkaufspassage, ein Mann, der an der Bushaltestelle ungeduldig raucht, vielleicht wird zur gleichen Zeit in einer U-Bahn jemand zusammengeschlagen — das alles passiert ohne den Zwang unbedingt erzählt zu werden. Welcher Monitor nun etwas Wichtiges zeigt und welcher nicht ist im Kontrollzentrum nicht Aufgabe eines Regisseurs oder Drehbuchautors. Jeder darf die Bedeutung der Details selbst bemessen. Die Stadt wird so zum ewigen Theorem, einem Ort unendlicher Möglichkeitsdimensionen. Ganz München als „Was wäre wenn“-Prinzip.

München — Geheimnisse einer Stadt ist ein Essayfilm, mit dem Dominik Graf und der vor einem Jahr verstorbene Kritiker Michael Althen versuchen, all jene Geschichten Münchens zu fassen, die in der täglichen Gemengelage von Nachrichten, Romanen und Filmen nicht erzählt werden. Zwölf Jahre nach seiner Premiere bringt Absolut Medien dieses Projekt nun endlich auf DVD heraus. Endlich, weil die Gedankentiefe, die diese Arbeit mitunter erreicht, sehr selten ist.

Einen derart materialreichen Essayfilm zu beschreiben ist nahezu unmöglich. Wo sollte man anfangen, wo aufhören? Beim Roman der Blicke vielleicht, der eine Kette von traurig unerfüllten Lebensentwürfen schafft und das allein anhand des zufälligen Augenkontaktes zweier Menschen in der anonymen Masse. Oder vielleicht doch lieber bei der Geschichte des Geldscheines, der einen semi-kriminellen Verwertungskreislauf durchläuft, bis er wieder bei seinem ursprünglichem Besitzer ankommt? Oder doch bei der Episode vom Kindermädchen, das in der Gastfamilie heimlich einen Freund empfängt, und aus Angst davor, vom kleinen Sohn der Gastgeber verraten zu werden, ihn jeden Morgen etwas mehr von ihrem nackten, jungen, schönen Körper sehen lässt? Althen und Graf erzählen dieses unschuldige sexuelle Erweckungserlebnis als sehnsüchtigen Fotoroman in Schwarzweiß. Die Fülle des Materials reicht von Fotos, Archivaufnahmen über Spielfilmszenen, Animationen bis hin zu künstlichen Kulissen. Graf und Althen behalten stets den Überblick. Kein Bild zu viel, kein Wort zu wenig. Damit erreicht ihre Arbeit die Qualität eines Chris Markers, dem vielleicht besten Essayfilmer überhaupt.

München — Geheimnisse einer Stadt bewegt sich spiralförmig durch sein Material. Seine Chronologie ist weniger der fiktive Lebenslaufs des anonymen, männlichen Protagonisten an dem sich die einzelnen Episoden grob orientieren, als vielmehr die Topographie der Stadt selbst. Und das meint in diese Fall nicht nur das gegenwärtige München, sondern umschliesst die Vergangenheit der Stadt im gleichen Maße wie ihre Zukunft. Der Film entstand kurz vor der Jahrtausendwende. Obwohl zwölf Jahre vergangen sind, behält er etwas sehr Drängendes, fast schon Aktuelles. Das liegt auch an dem hypnotischen Off-Kommentar den Dominik Graf langsam und eindringlich über die Bilder spricht und der schon sehr bald ein Eigenleben entwickelt. Dieser Kommentar macht süchtig, wie nur die Kommentare eines Werner Herzog süchtig machen. Natürlich erblüht die volle Weisheit des Textes erst in seiner Konfrontation mit den Bildern, die angesichts der Einfühlsamkeit eines Michael Althen (der den Text zwar nicht allein verfasst aber entscheiden geprägt haben muss) sich stillschweigend fügen und nach Belieben umdeuten lassen. Man möchte diese Tonspur ständig im Ohr haben, sie aus der DVD lösen und als Audiokommentar des eigenen Alltags abspielen. Es lässt sich daher auch verschmerzen, dass auf der DVD keine weiteren Extras vorhanden sind. Das erlaubt den Blick aufs Wesentliche.

Und das Wesentlich des Films liegt in seiner Kraft uns sehend reflektieren zu lassen. Die so ausgelösten Gedankengänge und Assoziationsketten werfen den Betrachter auf sich selbst und sein eigenes Großstadtleben zurück. Man erkennt Parallelen, findet seine eignen Sehnsüchte gespiegelt und verstärkt wieder. Denn wer in der Stadt groß geworden ist, der kennt das. Man versucht sich den Ort gleich einem Memory-Spiel zu erschließen, man zieht um, geht zwanghaft andere, neue Wege, immer vom Verlangen getrieben alle weißen Flecken auf der eigenen Landkarte aufzudecken und zu erobern, nur um letztlich zu begreifen, dass man nie in den Besitz jener Schlüssel kommen wird, die einem die komplette Gestalt der Stadt offenbaren werden.

Und in diesem Moment, wo wir das begreifen, sind wir bereits gealtert, haben etwas an die Stadt verloren. So wie der alte Mann in München. Geheimnisse einer Stadt dessen bitter-ehrlicher Kommentar zugleich auch sein Vermächtnis ans Leben ist. Wie er sich in seinem kargen Zimmer ans Fenster lehnt und auf die engen Straßenschluchten herab blickt, das ist dann ein Bild von einem, der längst in seiner Umgebung aufgegangen ist. Er ist zum Großstadtmenschen geworden und wir begreifen, dass dies keine blutleere soziologische Beschreibung mehr ist, sondern ein Schicksal, das man auch (er)tragen muss.

Aber auch das ist nur eine Lesart, eine Möglichkeit von vielen diesen Film zu begreifen. Es gibt sicherlich noch Tausende andere, auf jeden Fall viel mehr als Monitore im Kontrollzentrum der Münchner Verkehrsleitzentrale.

München - Geheimnisse einer Stadt

„Hier spielt sich der eigentliche Film über die Stadt München ab“, so heißt es einmal gegen Ende von Dominik Grafs und Michael Althens Filmessay „München — Geheimnisse einer Stadt“. Dann zeigt die Kamera das Video-Kontrollzentrum der Münchner Verkehrsleitzentrale. Für einen kurzen Moment ist man gewillt diese Bilderfolge und den Off-Text als politischen Kommentar zu lesen.
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