Müdigkeitsgesellschaft - Byung-Chul Han in Seoul/Berlin

Eine Filmkritik von Wolfgang Nierlin

Negative Logik der Freiheit

Mit dem Rücken zum Zuschauer schlägt ein Mönch auf das weit gespannte Fell einer Trommel. Unter die wuchtigen Schläge schieben sich Bilder schlafender Menschen, die real, dann wieder gemalt sind. Kontraste und Überlagerungen, Spiegelbilder und Doppelbelichtungen bilden die visuelle Signatur von Isabella Gressers Essayfilm Müdigkeitsgesellschaft – Byung-Chul Han in Seoul/Berlin. Dabei fließen auch Gegenwärtiges und Erinnertes ineinander, wenn der porträtierte, 1959 in Südkorea geborene Philosoph von seinem Leben in Deutschland erzählt. Vor dreißig Jahren sei er zum Studium der Metallurgie an die Technische Universität Clausthal im Harz gekommen, doch dann habe er sich für die Philosophie entschieden. Heute zählt Byung-Chul Han, der an der Universität der Künste in Berlin lehrt und in mehreren Schriften (vor allem in Müdigkeitsgesellschaft) über die Erschöpfungszustände spätkapitalistischer Gesellschaften nachgedacht hat, zu den bedeutendsten philosophischen Beobachtern und Kritikern eines Paradigmenwechsels, der durch ein „Übermaß an Positivität“ gekennzeichnet ist.
Damit gemeint ist jene kapitalistische „Logik der Freiheit“, die im digitalen Zeitalter von der „effizienten Fremdbestimmung“ zur „freiwilligen Selbstausbeutung“ geführt habe. Weil sich unter den Bedingungen der Informationsbeschleunigung und eines permanenten Leistungsdrucks Freizeit jederzeit in Arbeitszeit verwandeln lasse, werde das Ich als „Täter“ und „Unternehmen seiner selbst“ zugleich zu seinem eigenen „Opfer“. Byung-Chul Han diagnostiziert eine „Erfolgsdepression“ des narzisstischen Subjekts und einen „Exzess des Kapitals“, der paradoxerweise von einem „Gefühl der Freiheit“ begleitet werde, weshalb er diese als Projekt westlicher Gesellschaften für gescheitert erklärt.

Wie Freiheit Zwänge hervorruft und dabei in eine regelrechte Aporie führt, die weder ein Vorwärts noch ein Rückwärts zulässt, beobachtet der Philosoph auf seiner „Winterreise“ in seine Heimatstadt Seoul. Hier sieht sich Byung-Chul Han konfrontiert mit einer „Müdigkeitsgesellschaft im Endstadium“, in der die Menschen permanent gegen ihre Übermüdung ankämpfen, unter Erschöpfungszuständen und Burnout leiden. Die Selbstmordrate innerhalb der koreanischen Gesellschaft ist besonders hoch; und so gibt der Film einen ungewöhnlichen Einblick in sogenannte Todesseminare, in denen die Teilnehmer ihren eigenen Tod simulieren, um den Wert des Lebens zu entdecken.

Isabella Gresser begleitet ihren Protagonisten aber auch zu einem Gespräch mit dem Regisseur (Old Boy) und Produzenten (Snowpiercer) Park Chan-Wook, der sich mit Bezug auf Hans Buch Transparenzgesellschaft darüber wundert, warum die Menschen sich heutzutage lieber „entblößen“ statt sich zu „verbergen“; was andererseits in einem merkwürdig paradoxen Spannungsverhältnis zu stehen scheint zum fast unheimlichen Blickverlust der Menschen im öffentlichen Raum.

Eine andere Station Byung-Chul Hans ist der Besuch eines Tempels auf dem Winterberg, wo er im Rekurs auf einen „taoistischen Wanderer“ (beim chinesischen Philosophen Zhuangzi) nicht zuletzt über „Gegennarrative“ der Philosophie reflektiert. Diese sollte nicht Lebenshilfe geben im Sinne der Ratgeber-Literatur, sondern „desorientieren“ und „für etwas ganz anderes aufrütteln“. Die Zerstreuung des Willens und seiner auf ein Ankommen gerichteten Ziele, „der Gebrauch des Unbrauchbaren“, die Rettung der Zeit (nach Michael Endes Momo) sowie „gelassenes Nichtstun“ (nach Peter Handkes Versuch über die Müdigkeit) erscheinen ihm als Gegenkräfte zum Klammergriff des narzisstischen Ichs.

Die 1970 in Friedrichshafen am Bodensee geborene Isabella Gresser, die bei Marina Abramović studiert hat und vor allem im Kontext der Bildenden Kunst arbeitet, filmt futuristisch anmutende Stadtlandschaften, übermüdete Menschen in U-Bahnen und immer wieder Brücken. Geradezu artifiziell und fremd wirken jene Stadtbewohner, die auf Trimm-dich-Geräten oder vor gemalten Waldlandschaften Ausgleich und Erholung suchen.

Als Kontrast zur Seoul-Reise, die den größten Teil des Films einnimmt, fungieren überraschenderweise die Ansichten Berlins, die dazu einen Rahmen bilden und den fast dörflichen Charakter des Stadtteils Schöneberg beschreiben. Byung-Chul Han, der hier lebt, führt uns zu Schauplätzen seines Lieblingsfilms Der Himmel über Berlin, auf den St. Matthäus Friedhof, wo die Gebrüder Grimm begraben sind, in einen Trödelladen, der als Bollwerk gegen die Wegwerfkultur erscheint und auf den ehemaligen Flughafen Tempelhof, eine „Lichtung in der Mitte Berlins“. Die Mitte des Tempels sei leer, die Leere aber habe etwas Heiliges, assoziiert der Philosoph, der überzeugt ist, dass nur in Leere und Stille das Rettende wachsen kann.

Müdigkeitsgesellschaft - Byung-Chul Han in Seoul/Berlin

Mit dem Rücken zum Zuschauer schlägt ein Mönch auf das weit gespannte Fell einer Trommel. Unter die wuchtigen Schläge schieben sich Bilder schlafender Menschen, die real, dann wieder gemalt sind. Kontraste und Überlagerungen, Spiegelbilder und Doppelbelichtungen bilden die visuelle Signatur von Isabella Gressers Essayfilm „Müdigkeitsgesellschaft – Byung-Chul Han in Seoul/Berlin“.
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