Mother (2009)

Eine Filmkritik von Claire Horst

Mama ist die Beste

Ein Vergleich, den viele Koreaner gern heranziehen, ist der zwischen ihrer eigenen Gesellschaft und der italienischen. Beide, Koreaner und Italiener, seien temperamentvoller als ihre Nachbarn, wird dann behauptet, und in beiden Ländern habe die Mutter, die „mamma“, eine besondere Bedeutung. Natürlich sind das Stereotype – doch wie die meisten hat auch dieses einen wahren Kern. Tatsächlich steht für viele koreanische Mütter der eigene Sohn an erster Stelle, und viele junge Männer brauchen sehr lange, um sich von ihrer Mutter zu lösen.

Mother, das neue Werk des südkoreanischen Regisseurs Bong Joon-Ho, erzählt von einer beinahe ödipalen Mutter-Sohn-Beziehung. Bong ist mit der Darstellung von Familienstrukturen zu internationaler Berühmtheit gelangt – sein grandioser Film The Host war der erfolgreichste koreanische Film aller Zeiten. Auf durchaus ironische Weise griff er Genrekonventionen auf, um sie durch Übertreibung ad absurdum zu führen. Seine gegen ein Monster kämpfende Familie ähnelte anfangs etwa der in Jurassic Park, um später auseinander zu brechen. Ganz ähnlich nutzt Bong auch in Mother klassische Familienstrukturen, die er überzeichnet. Und auch diesmal ist die Geschichte um einiges vielschichtiger, als der Plot vermuten lassen würde.

Hye-ja (Kim Hye-ja), Ginsengverkäuferin und Akupunkteurin, ist eine typische koreanische Ajumma, eine ältere Dame, die hart arbeitet und alles für ihren erwachsenen Sohn Do-jun tut. In ihrem Fall geht diese Hingabe so weit, dass sie Do-jun sogar das Essen zerteilt und ihm selbst beim Pinkeln noch „gesunden“ Tee einflößt. Do-jun (Won Bin) erfüllt das Klischee vom Muttersöhnchen insoweit, als er von seiner Mutter vollkommen abhängig ist – gearbeitet hat er noch nie. Won Bin spielt ihn als naives und gutmütiges, doch etwas zurückgebliebenes Unschuldslamm. Sein Do-jun blickt ständig mit offenem Mund vor sich hin und lässt jeden Sinn für Ironie vermissen.

Nach einer durchzechten Nacht wird Do-jun unter Mordverdacht festgenommen. Ein Schulmädchen wurde tot aufgefunden. Der geistig eingeschränkte junge Mann kann sich nicht an die Nacht erinnern, in seiner Mutter erwachen jedoch ungeahnte Kräfte. Hye-ja nimmt die Suche nach dem Mörder selbst in die Hand – dass ihr Sohn niemandem ein Haar krümmen könnte, steht für sie außer Frage. Die bisher unauffällige Dame wird zur Detektivin und Menschenrechtsaktivistin, ihr Feldzug gegen Ungerechtigkeit führt zur Entlarvung der koreanischen Gesellschaft.

Denn die Kernfamilie steht plötzlich einem korrupten und desinteressierten Polizeiapparat gegenüber, in dem Gewalt nur aus Langeweile überhand genommen hat. Sämtliche Figuren fungieren als Prototypen einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft: neben der liebenden Mutter gibt es da die ungewollt kinderlose und deshalb verzweifelte junge Frau, den korrupten Anwalt, den alleinstehenden und von der Gesellschaft ausgestoßenen Alten, die Alkoholikerin, die mobbenden Schulkinder, das sexsüchtige Schulmädchen.

Wie in früheren Werken mischt Bong Elemente unterschiedlichster Gattungen. Film noir, Hitchcock-Hommage, Familiendrama, Agatha Christie auf Koreanisch? All diese Beschreibungen treffen zu, und doch nur teilweise. Mother ist genauso sehr Familiendrama wie Gesellschaftsporträt, Krimi ebenso wie Satire. Der Regisseur selber sagt dazu: „Anscheinend ist es ein Kriminalfilm über einen Mordfall, aber es gibt keinen Polizisten als Hauptfigur. Stattdessen spielt eine Mutter die Hauptrolle. Wir pflegen zu scherzen, dass die Zugehörigkeit zu einem Genre letztendlich von der Angestellten entschieden wird, welche den Film in der Videothek einsortiert.“

Bongs Blick ist entlarvend und mitleidslos. Nichts ist so, wie es zunächst scheint. Selbstlose Mutterliebe, wie sie in zahllosen koreanischen Liedern, Büchern und Filmen propagiert wird? Abgründe tun sich auf, wenn Do-jun Kindheitserinnerungen auspackt. Der Respekt vor den Höherstehenden, wie er gemäß der konfuzianischen Lehre gefordert wird? Auch der wird dem Zuschauer angesichts der hier präsentierten Elite schnell ausgetrieben. Rechtsanwälte, Absolventen der besten Hochschulen des Landes, entpuppen sich als korrupte Betrüger, die ihre Klientin respektlos in einer Animierbar empfangen. Kinder als unschuldige Wesen? Weit gefehlt. In ihren Gesprächen mit den Mitschülern der Toten entlarvt Hye-ja die Kindheit schnell als Lebensphase, die von niedrigen Motiven, Macht und sexuellen Begehrlichkeiten durchzogen ist. Und der Respekt vor dem Alter? Die Alten sind hier Ausgestoßene. Hye-ja bleibt nur noch ihre ganz eigene Form der Akupunktur, um mit der Realität fertig zu werden. Denn dass es auch ihr nicht um Gerechtigkeit geht, muss sie bald erkennen.

Mit Kim Hye-ja hat Regisseur Bong ein Idol seiner Jugend engagiert. Als Seriendarstellerin ist sie in Korea seit Jahren bekannt. Dass er auch in der Ausstattung Wert auf stimmige Details legt, zeigt die Produktionsgeschichte: Die fiktive Kleinstadt, in der der Film spielt, setzt sich aus zahllosen Orten in ganz Südkorea zusammen, einige Drehorte wurden im Studio gebaut. Und der Film ist großartig anzusehen – Bong hat im Widescreen-Format 2:35:1 gedreht, was nicht nur die Landschaftsaufnahmen besser zur Geltung bringt.

In Korea wurde vor allem Kim Hye-ja für ihr Spiel hoch gelobt. Bei den Asian Film Awards 2010 wurde sie als Beste Hauptdarstellerin geehrt. Außerdem wurde Mother als Bester Film und für das Beste Drehbuch ausgezeichnet. Der Film war zudem als offizieller Beitrag Südkoreas für die Oscar®-Verleihung 2010 nominiert.
 

Mother (2009)

Ein Vergleich, den viele Koreaner gern heranziehen, ist der zwischen ihrer eigenen Gesellschaft und der italienischen. Beide, Koreaner und Italiener, seien temperamentvoller als ihre Nachbarn, wird dann behauptet, und in beiden Ländern habe die Mutter, die „mamma“, eine besondere Bedeutung.

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