Moebius, die Lust, das Messer

Eine Filmkritik von Sophie Charlotte Rieger

Wenn Worte nicht mehr reichen

Kim Ki-duk spaltet die Gemüter. Er provoziert und schockiert. Sein neuestes Werk Moebius, das in Venedig uraufgeführt wurde und sowohl in Toronto als auch beim Filmfest Hamburg zu sehen war, bildet keine Ausnahme. Die Publikumsreaktionen reichen von nervösem Kichern, über ausgelassenes Lachen bis hin zu Äußerungen der Abscheu, die dem Grunzen der Protagonisten auf der Leinwand übrigens nicht unähnlich sind. Am Ende hinterlässt Moebius den Zuschauer ratlos und verstört.
Der Film beginnt steil. Es dauert nur wenige Minuten bis zur ersten körperlichen Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten. Hier sind auch erstmals die schon erwähnten Grunzgeräusche zu hören, die im gesamten Film der einzige hörbare Ausdruck von Gefühlen und Gedanken bleiben. Moebius kommt gänzlich ohne Dialoge aus. Es ist erstaunlich, wie entbehrlich sich hier die verbale Kommunikation gestaltet. Kim Ki-Duk und seinen Darstellern gelingt es, nahezu alle Inhalte allein über Bilder und Körpersprache zu kommunizieren. Im Kopf des Zuschauers laufen die Dialoge ohnehin von selbst ab. Wir müssen sie gar nicht hören. Sie sind offensichtlich. Selbstredend (was für ein schöner Begriff in diesem Kontext) ist das Schweigen der Figuren nicht nur ein Stilmittel: Nichts zu sagen ist vielsagend.

Die Abwesenheit der Sprache ist vollkommen anderer Natur als im Stummfilm, der einem bei der obigen Umschreibung vielleicht in den Sinn kommen mag. Doch es gibt wohl kaum ein Genre, in das sich Moebius schlechter einordnen ließe. Das Schauspiel bei Kim Ki-Duk ist naturalistisch, nicht gekünstelt oder theatralisch. Alle Umweltgeräusche, ganz selten auch ein wenig Musik, sind deutlich hörbar. Vor allem aber fehlen die Texttafeln, die im Stummfilm dem Publikum Schlüsselsätze präsentieren. Die Funktion dieser Texteinblendungen wird in Moebius in sehr begrenztem Rahmen von einem Computer bzw. dem Internet übernommen, wenn der Vater der Familie nach Begriffen wie „Orgasmus ohne Penis“ googelt und uns damit einen Blick in seine Gedanken erlaubt.

Nun brennt der neugierige Leser sicher darauf zu erfahren, warum diese Suchanfrage im Film überhaupt eine Rolle spielt. Dies ist ganz einfach mit der Handlung der ersten fünf Filmminuten zu erklären, in der die Mutter ihren Sohn kastriert und anschließend seinen Penis verspeist. Das Organ ist für immer verloren, der Junge anhaltenden Erniedrigungen durch seine Schulkameraden ausgesetzt und der Vater in Verzweiflung ob der sexuellen Zukunft seines Sohnes. Von diesem Zeitpunkt an wird es nur noch bizarrer. Kim Ki-duk durchbricht mit voller Wucht die Komfortzone seiner Zuschauer und quält sie mit den immer gleichen Bildern von sadistischer Selbstverstümmelung. Wo keine Penetration stattfinden kann, so die Logik, da kann Lust nur noch aus Schmerz gewonnen werden.

Die Symbolkraft des Penis ist überdeutlich. Alles dreht sich um dieses Organ, als gäbe es im Leben eines Mannes nichts Wichtigeres als die Penetration einer Frau. Sicher wünschen wir niemandem ein solches Unglück, doch die Reaktion des Vaters überrascht uns dennoch. Selbst als sein Sohn – absurder Weise wegen Vergewaltigung angeklagt – im Gefängnis sitzt, gilt die einzige Sorge des Vater der nun unmöglich gewordenen Masturbation. In den Weiten des Internets findet er schließlich die Lösung: sexuelle Erregung durch Schmerz.

Es ließe sich nun darüber debattieren, ob denn der männliche Körper in der Tat nur eine einzige erogene Zone aufweise, oder ob es neben der Selbstverstümmelung vielleicht doch noch eine andere Art und Weise gäbe, dem schwanzlosen Mann Lust zu verschaffen. Auch brennt uns weiterhin die Frage unter den Nägeln, warum die eifersüchtige Frau, der die Kastration des untreuen Ehemannes nicht gelungen ist, ihre Aggressionen ausgerechnet an ihrem Sohn auslässt. Weil der Penis an sich an allem Schuld ist und es daher nebensächlich ist, welches konkrete Exemplar man erwischt? In der Tat erlaubt das Fehlen des männlichen Geschlechtsorgans den Frauen, selbst die Rolle der Penetrierenden zu übernehmen. Wenn die Liebhaberin des Jungen ihm zur Stimulation ein Messer in den Rücken rammt, dann ist eben dieses Messer nichts anderes als ein Phallus. Wer den Penis hat, hat die Macht? Geht es darum?

Nein, denn am Ende hilft auch der Phallus nicht dabei, die Familie vor dem Untergang zu retten. Die erste Kastration löst eine Kettenreaktion des moralischen Verfalls aus, an deren Ende schließlich gar die inzestuöse Begegnung zwischen Mutter und Sohn steht, bei der der Vater – nun selbst entmannt – nur noch tatenlos zusehen kann.

In seinen bizarrsten Momenten entwickelt Moebius eine absurde Komik und es ist schwer zu beurteilen, ob diese vielleicht nur unserer Scham und dem Versuch entspringt, die Ereignisse auf der Leinwand von uns zu distanzieren. Einerseits wirkt das alles so abwegig und gleichzeitig steckt doch, das merken wir, irgendwo ein Fünkchen Wahrheit in diesem Exzess aus Sexualität und Gewalt.

Es ist nicht das Schweigen der Charaktere, das uns bis zum Schluss eine klare Antwort auf unsere Fragen verwehrt. Wir haben Hemmungen, Moebius zu analysieren und zu dechiffrieren. Vielleicht, so denken wir, wollen wir gar nicht wissen, welche „Wahrheit“ sich dahinter verbirgt. Denn die könnte, so ahnen wir, ziemlich unangenehm werden.

Moebius, die Lust, das Messer

Kim Ki-duk spaltet die Gemüter. Er provoziert und schockiert. Sein neuestes Werk „Moebius“, das in Venedig uraufgeführt wurde und sowohl in Toronto als auch beim Filmfest Hamburg zu sehen war, bildet keine Ausnahme. Die Publikumsreaktionen reichen von nervösem Kichern, über ausgelassenes Lachen bis hin zu Äußerungen der Abscheu, die dem Grunzen der Protagonisten auf der Leinwand übrigens nicht unähnlich sind.
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