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Eine Grundschulklasse in der holländischen Provinz. Auf den ersten Blick scheint hier alles ganz normal zu laufen: Es wird zusammen getanzt, gelernt, gelacht und gerechnet. Nur eine Kleinigkeit ist anders: Viele der Kinder stammen aus syrischen Kriegsgebieten.

Miss Kiet's Children

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Heartland Holland

„Create your own calm“ steht auf dem weißgrauen T-Shirt der hageren Grundschullehrerin Miss Kiet. In einer holländischen Volksschule nahe Eindhoven bereitet sie wie jeden Tag den Unterricht in ihrem Klassenzimmer vor, checkt die Stühle der Kinder oder legt ihnen Mappen und Stifte auf die kleinen Schulbänke. Überhaupt sieht optisch nahezu alles in diesem Klassenraum erst einmal sehr vertraut aus. Doch eine wesentliche Komponente ist hier komplett anders, was man spätestens dann bemerkt, wenn die Kinder untereinander plötzlich beginnen, arabisch zu sprechen.

Die titelgebenden Miss Kiet’s Children in dem neuen Film des erfahrenen Dokumentarfilmduos Petra Lataster-Czisch und Peter Lataster sind nämlich im Grunde ein buntscheckig zusammengewürfelter Haufen: Es handelt sich hier um eine neuartige Integrationsklasse und viele der Kinder stammen aus Syrien oder dem Irak. Manche von ihnen sind direkt aus den Kriegsgebieten ins ferne Städtchen Hapert geflüchtet, andere sind bereits seit kurzem mit ihren Eltern in dieser Umgebung und können miteinander schon etwas Holländisch sprechen.

Hier in dem ruhigen 5000-Seelen-Städtchen in der holländischen Provinz Nordbrabant wird ihnen durch die speziellen Lehrmethoden von Kiet Engels so etwas wie ein vollkommener Neustart ermöglicht. Mit sagenhafter Ruhe und Souveränität gelingt es der strikt-resoluten, aber jederzeit herzlich-freundlichen Pädagogin den nicht selten traumatisierten Flüchtlingskindern vor allem zwei Dinge zu schenken: Hoffnung und Geborgenheit.

Neben grundlegenden Skills wie Lesen, Rechnen und Schreiben bringt Miss Kiet ihren neuen Eleven obendrein vor allem ein gehöriges Maß an Empathie bei. Durch ihre wunderbar konzentrierte Art der Wertevermittlung gelingt es ihr, nacheinander beinahe alle Kinder richtig anzusprechen und im selben Augenblick tiefe Einblicke in ihre verletzten Seelen zu gewinnen.

Haya ist eine von ihnen – und was ist sie doch für eine fantastische Protagonistin! Ähnlich zu Nicolas Philiberts preisgekröntem Dokumentarfilm Sein und Haben, der 2002 mit Erfolg in Cannes lief und sich auf eine französische Dorfschulklasse in der Auvergne konzentriert hatte, fokussiert sich das Geschehen in Miss Kiet’s Children ebenfalls auf einzelne Kinder in dieser höchst ungewöhnlichen Klassengemeinschaft um Rianna, Leanne, Ahmad, Maksem, Jorj und Nour.

Vieles wirkt zu Beginn erst einmal nicht besonders spektakulär: „Guten Morgen Haya! Was ist passiert? Bist du gefallen? Bist du zu schnell gerannt?“ Erst im Verbund mit den anderen Kindern – und erst recht in manchem Fehlverhalten – zeigen sich die inneren Wunden der jungen ProtagonistInnen, was Peter Latasters Kamera in diesen zwei atemberaubenden Dokumentarfilmstunden kongenial einfängt.

Fast durchweg auf Augenhöhe der Kinder gedreht, mit bezaubernden Close-ups und einer herausragenden Gabe für den richtigen Moment des Dranbleibens, sei es im Schulhof, beim Spielen, in der Turnhalle oder bei der abschließenden Schulaufführung zu den Klängen von Pharrell Williams (Freedom), gelingt es dem Regieteam, den Zuschauer quasi mit hinein ins Klassenzimmer zu setzen und ihn wirklich teilwerden zu lassen an diesem großen pädagogischen Entwicklungsprojekt.

Ein Jahr lang, subtil in der Methode und hoch emotional in der Wirkung hat Peter Lataster – zusammen mit seiner Frau und langjährigen Dokumentarfilmpartnerin Petra Lataster-Czisch (The Need to dance/Awake in a bad dream/We) – all die kleinen schulischen Erfolge und Misserfolge genauso wie viele persönliche Höhen und Tiefen im Leben dieser unvergesslichen Grundschulklasse mit der Kamera begleitet.

Gänzlich frei von Zwischentiteln, klassischen O-Tönen oder Voice-over-Kommentaren entfaltet sich auf diese Weise schnell eine geradezu magische Nähe, die soghaft bis zum Ende nach knapp Stunden anhält – und lange darüber hinaus. Dies ist zweifellos der handwerkliche Kamera-Coup dieses absolut herausragenden Dokumentarfilms, der seit seiner Uraufführung auf der IDFA in Amsterdam im letzten Jahr inzwischen europaweit tourt und zuletzt auch beispielsweise den Publikumspreis auf dem DOK.fest München gewinnen konnte.

Herausgekommen ist dabei ein extrem bewegender Film im Wortsinn: Mal rührt Miss Kiet’s Children zu Tränen angesichts der fürchterlichen Traumata mancher Kinder, im nächsten Moment lacht man allerdings nicht selten schon wieder mit den stetig mutiger werdenden Kids, die allmählich lernen (müssen), sich in dieser besonderen Schulklasse wie in ihrer völlig anderen Umgebung zurechtzufinden, und zuletzt verlässt man den Kinosessel tatsächlich mit mehr als nur einem Funken Hoffnung. Oder um es in der ebenso schlichten wie anrührenden Sprache von Kiet Engels auszudrücken: „Für jedes Problem gibt es eine Lösung.“

Auch mit diesem grandiosen Dokumentarfilm untermauern die „Latasters“, wie sie innerhalb der Branche nicht selten mit großem Respekt genannt werden, ihre Ausnahmestellung als nahezu perfekt eingespieltes Autorenpaar, das inzwischen immerhin seit 1989 unermüdlich tätig ist und fast mit jeder neuen Produktion ihre eh schon hohe eigene Messlatte ein weiteres Mal noch ein kleines Stück nach oben schieben können. Miss Kiets’ Children gehört ohne Zweifel zu den Dokumentarfilmperlen des Jahres: Einen sensibleren, emotionaleren und klügeren Beitrag zur Integrationsdebatte hat es auf der Kinoleinwand noch nicht gegeben. Und zugleich: So extrem lebensbejahend kann ein Dokumentarfilm sein!
 

Miss Kiet's Children

„Create your own calm“ steht auf dem weißgrauen T-Shirt der hageren Grundschullehrerin Miss Kiet. In einer holländischen Volksschule nahe Eindhoven bereitet sie wie jeden Tag den Unterricht in ihrem Klassenzimmer vor, checkt die Stühle der Kinder oder legt ihnen Mappen und Stifte auf die kleinen Schulbänke. Überhaupt sieht optisch nahezu alles in diesem Klassenraum erst einmal sehr vertraut aus.

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