Manche hatten Krokodile

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

St. Pauli, deine Menschen

St. Pauli ist ein Mythos, eine Legende, ein Ort, an dem Geschichte und Geschichten zusammenfließen. Der Dokumentarfilmer Christian Hornung interessiert sich aber in Manche hatten Krokodile weniger für die Mythen, sondern viel eher für die Menschen, die dort leben und miterleben müssen, wie sich ihr Kiez immer wieder verändert und neu erfunden hat. Sie sind oder waren Stripperinnen, Seeleute (echte wie auch solche, die immer nur davon geträumt haben, mal zur See zu fahren), Friseure, Bardamen und Kneipenwirte – und sie haben alle verdammt viel erlebt.
Was sie neben der Nachbarschaft, die sie teilen, noch eint, ist vor allem eines: Sie sind allesamt Mitglieder eines Sparclubs, einer immer seltener werdenden Institution, die eine Mischung aus Privatbank, Club, Notgemeinschaft und Auffangstation ist. In den Sparkästen, die man dann und wann noch in verstaubten Kneipen findet, hat jeder Sparer ein eigenes Fach, in dem jede Woche ein bestimmter Betrag eingezahlt wird. Am Ende des Jahres bei einer gemeinsamen Weihnachtsfeier bekommt jedes Mitglied dann das von ihm eingezahlte Geld ausbezahlt. Diese eigentümliche Institution ist das Gemeinsame und Verbindende, der rote Faden sozusagen, an dem sich der Film entlang hangelt, die Linie, die er abläuft, um immer wieder nach links und rechts zu schauen, in die schäbigen Kneipen, in die versteckten kleinen Winkel, die noch übrig geblieben sind und die aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Diese Orte, an denen es nach Zigarettenrauch und Bier riecht, an denen die Gardinen manchmal ebenso fadenscheinig sind wie die Fußball-Fanschals und an denen die Spielautomaten einträchtig neben dem Sparclub-Schränkchen hängen, sind viel mehr als nur Kulisse, sie sind fast so etwas wie weitere, gleichwohl stumme Zeugen einer untergehenden oder bereits untergegangenen Zeit.

Eigentlich ist es angesichts des Gentrifizierungswahns, der auch ihren Kiez erfasst hat, ein Wunder, dass es diese Orte überhaupt noch gibt. Ebenso wie die Menschen, die allesamt irgendwie Gestrandete sind, Glückssucher, tapfere Kämpfer, die vieles erlebt haben und noch mehr zu erzählen wissen. Menschen, denen man für den Verlauf eines Filmes unheimlich gerne zuhört und die man sonst vielleicht manchmal übersehen würde.

„Du hast hinterm Tresen gearbeitet, deine Alte ging auf den Strich“ – ganz selbstverständlich und nebenbei fallen Sätze wie diese. Beiläufig erzählt eine freundliche ältere Dame davon, dass sie Hamburgs dickste Stripperin war, vom Kiezkrieg mit den Österreichern, von den Goldenen Zeiten, als viel Geld verdient und noch mehr wieder rausgehauen wurde. Insofern ist es fast schon ein Witz – aber keiner, der sich über die Menschen lustig macht, – dass hier ausgerechnet ein Sparclub die dramaturgische Klammer bildet, die alles zusammenhält. Denn Sparen, das stand damals nicht hoch im Kurs, und heute ist es immer noch keine Lust, sondern vielmehr eine Notwendigkeit, weil die Menschen, von denen Manche hatten Krokodile erzählt, vielfach am Rande des Existenzminimums leben.

Wie behutsam und durchdacht der Film gebaut ist, das merkt man erst nach einer ganzen Weile, weil diese Form, die Christian Hornung gefunden hat, sich vollkommen organisch anfühlt: Kommt eine neue Person dazu, folgt die Kamera dieser, bis ein ruhiger Ort gefunden ist, an dem sowohl der oder die Porträtierte wie auch der Film selbst zur Ruhe kommen: Dann, inmitten der fast schon tableauartigen Bildauschnitte, sind es starre Einstellungen, die den oftmals etwas heruntergekommenen Lokalitäten eine Anmutung von malerischer Milieuschilderung verleihen. Außerdem gibt es immer wieder geschickt in den Film eingebaute Wischblenden (wenn etwa ein Auto durchs Bild fährt), die verdeutlichen, dass sich Zeit und Druck der allgegenwärtigen Veränderung sich nicht aufhalten lassen. Mit einem Lidschlag, einem Blinzeln verändern sich hier Gebäude, ändern Fassaden ihr Aussehen, sehen wir als Zuschauer dabei zu, wie zerbrechlich und vergänglich das ist, was wir gerade beobachten – und wie kostbar, aller vermeintlichen Hässlichkeit zum Trotz.

Und so ist der Grundton des Films fast immer melancholisch, aber niemals resignativ oder jammernd: Sie haben gelebt und geliebt und auch wenn jetzt jeder Euro zählt, so hat man doch das Gefühl, dass es ein reiches Leben ist und war: reich an Geschichten, an Erlebtem, an Erzähltem.

Manche hatten Krokodile

St. Pauli ist ein Mythos, eine Legende, ein Ort, an dem Geschichte und Geschichten zusammenfließen. Der Dokumentarfilmer Christian Hornung interessiert sich aber in „Manche hatten Krokodile“ weniger für die Mythen, sondern viel eher für die Menschen, die dort leben und miterleben müssen, wie sich ihr Kiez immer wieder verändert und neu erfunden hat.
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