LT22 Radio La Colifata

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Tosender Beifall und Sprechgesänge einer gewaltigen Menschenmenge empfangen die kleine Gruppe von Personen, die bei einem Konzert des sozialpolitisch engagierten Weltmusikers Manu Chao mit den Worten die Bühne betritt: „Wir sind vom Radio La Colifata“. Dass es sich bei dieser Radiostation um eine ganz besondere handelt, die mittlerweile in Lateinamerika und auch in Spanien eine geradezu sagenhafte Popularität erreicht hat, schildert in bewegender Weise die Dokumentation LT22 Radio La Colifata des argentinischen Regisseurs Carlos Larrondo. Zehn Jahre lang hat dieser das Leben der Patienten des Hospital José Tiburcio Borda, einer Klinik für Neuropsychiatrie in Buenos Aires, mit der Kamera begleitet, und es sind diese als psychisch krank diagnostizierten Menschen, die das Programm des einzigartigen Radios gestalten, das im Garten des Krankenhauses auf Sendung geht.
Colifata – dieser Ausdruck des Lunfardo-Slangs aus Buenos Aires bezeichnet liebevoll das, was gemeinhin als wahnsinnig, verrückt, irre betitelt wird. Im Sommer 1991 rief der damalige Psychologiestudent Alfredo Oliveira das Radio La Colifata ins Leben, das seitdem nunmehr jeden Samstagnachmittag vier Stunden lang im Äther wirbelt. Das illustre Programm wird von den Patienten und mitunter auch Besuchern des Borda Hospitals mit den unterschiedlichsten Themen gestaltet, von Schilderungen des Alltags in der Klinik bis hin zu philosophischen Betrachtungen über Wahnsinn und „Normalität“. Was als kurioses Projekt begann, hat sich zu einem überaus erfolgreichen Selbstläufer entwickelt, und zwar gleichermaßen als effektives Therapie-Konzept für die Radiomacher wie auch als Publikumsliebling einer begeisterten Zuhörerschaft, die mittlerweile aus Millionen von Menschen besteht. Im Laufe der Zeit gesellten sich auch zahlreiche Künstler zu dem allmählich enstandenen Netzwerk um das durchgeknallte Radio, allen voran Manu Chao, der auch die Filmmusik zu Carlos Larrondos Dokumentation beisteuerte.

Während die Kamera mit schlichten Bildern Impressionen der zum Teil desolaten Zustände im überbelegten Plattenbau des Hospitals Borda einfängt, erzählen die dort untergebrachten Patienten von ihren psychischen Schwierigkeiten, ihren Erfahrungen in der Klinik, ihrer Lebensgeschichte und der enormen Relevanz, die ihre Aktivitäten bei Radio La Colifata für sie haben. Da berichtet Trinity ganz offen und direkt von den fatalen Auswirkungen, die Krankheit und Medikationen auf die entwürdigte Persönlichkeit ausüben, und Horacio Surur, der nunmehr ein eigenes Programm unter dem Titel „El guerrero de la luz – Krieger des Lichts“ betreut, spricht von der Unschärfe seiner Identität, die sich auf seine Rolle beschränkte, eben einer der Verrückten von Borda zu sein. Fernando Aquino schildert sehr pointiert, wie man unter dem Einfluss von Psychopharmaka im isolierten Klinikalltag seine Sprache und somit die Fähigkeit zur Kommunikation verliert und zu einer wandelnden Mumie wird – ein immens wichtiger Aspekt, dem die Mitarbeit bei Radio La Colifata mit der kompromisslosen Wertschätzung der Stimmen jener begegnet, die in ihrer Verzweiflung verstummt waren. Ein therapeutischer Effekt, der bereits das Leben einiger Patienten, von denen viele bereits wieder außerhalb der Klinik leben, äußerst günstig beeinflusst hat.

Doch La Colifata ist weitaus mehr als eine ebenso eigensinnige wie innovative Maßnahme zur Wiederbelebung der abgestumpften Patienten im Borda Hospital, wie LT22 Radio La Colifata in eindrucksvoller Art dokumentiert. Der Radiosender der Klinik ist längst zu einem soziokulturellen Phänomen avanciert, das das gesellschaftliche Bild von psychisch beeinträchtigten Menschen in Argentinien und anderswo erheblich revidiert hat – von dem heiteren, ermutigenden, kritischen und oftmals heftig bewegenden Gehalt der Sendungen einmal ganz zu schweigen. Dieses Verdienst, das den engagierten Programmgestaltern gar nicht hoch genug angerechnet werden kann und eine unschlagbare Form der effektiven Öffentlichkeitsarbeit darstellt, besteht auch in der Entmythologisierung des stigmatisierenden Begriffs der Verrücktheit und des Wahnsinns, der allein durch den Sendernamen La Colifata und den meist lockeren Umgang der Betroffenen damit seine negativen Ausprägungen mindestens neutralisiert.

Es ist die behutsame wie sorgfältige Art des Umgangs mit seinen Protagonisten, die LT22 Radio La Colifata zu einer respektvollen wie repektablen Dokumentation mit immenser sozialpolitischer Bedeutung werden lässt. Carlos Larrondo ist damit ein zutiefst humanistischer, authentischer und ergreifender Film über das Recht gelungen, trotz psychischer Beeinträchtigungen ein würdiges Leben zu führen. Radio La Colifata veschafft den nur allzu häufig marginalisierten und verlachten Verrückten nicht nur eine kräftige Stimme, sondern auch die Achtung eines Millionenpublikums, das ganz Ohr ist, wenn die Radiomacher von Borda auf Sendung gehen. Auch die musikalische Komponente der Dokumentation gestaltet sich äußerst ansprechend, vor allem natürlich die Aufnahmen des Konzerts mit Manu Chao im so genannten All Boys Stadion in Buenos Aires, die den Kreis zum Anfang schließen und ganz grandiose sowie politisch motivierte und hochgradig emotionale Auftritte der Colifatos einfangen. LT22 Radio La Colifata ist eine filmische Perle, die nicht nur einige Nachdenklichkeiten über die so genannte Normalität anstößt und mitunter in Tränennähe berührt, sondern auch noch heftiges Vergnügen bereitet.

LT22 Radio La Colifata

Tosender Beifall und Sprechgesänge einer gewaltigen Menschenmenge empfangen die kleine Gruppe von Personen, die bei einem Konzert des sozialpolitisch engagierten Weltmusikers Manu Chao mit den Worten die Bühne betritt: „Wir sind vom Radio La Colifata“.
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