Love Exposure

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Katholizismus, Karate und Perversionen

Eigentlich gehören Filme, die annähernd vier Stunden Laufzeit aufweisen, ja verboten. Denn erstens sind sie nicht nur extrem strapaziös für das Sitzfleisch, sondern vermasseln zweitens jedem Kinobetreiber auch noch das Geschäft. Statt zwei Vorstellungen reicht der Abend bei einem Film wie diesem nur noch für eine. Und das in Zeiten der Krise – welche Rücksichtslosigkeit. Bei Sion Sonos 237 Minuten langem Film Love Exposure / Ai no mukidashi aber sind solche Einwände spätestens nach dem Verlassen des Kinosaals wie weggewischt. Denn die vier Stunden vergehen wie im Flug und entlassen den Zuschauer dank der überbordenden Fülle an Wendungen und verrückten Ideen wie berauscht hinaus ins Leben. Ein Glücksfall, wild und voller Chaos, Zärtlichkeit und Mut, eine wahre Trash-Explosion und ein Füllhorn cineastischer Einfälle ist dieser Film. Und damit jeden Überlängenaufschlag mehr als wert.
Wobei der Plot beim bloßen Beschreiben schon ein wenig seltsam klingt: Als die katholische Mutter des kleinen Yu stirbt, bleibt dem Knaben nichts als eine Marienstatue und die Ermahnung, sich eine Frau wie Maria zu suchen. Gramgebeugt lässt sich Yus Vater (Atsuro Watabe) jedoch zum Priester weihen und piesackt seinen mittlerweile älteren Sohn mit dem Drängen, ihm alle Sünden zu beichten, die dieser begangen haben soll. Da Yu (als Teenager brillant gespielt von Nishijima Takahiro) aber kaum Sünden vorzuweisen hat, bemüht er sich, endlich den Wünschen des Vaters zu entsprechen. Denn der priesterliche Beistand ist die einzige Form der Zuneigung, die er zu erwarten hat. Yu entwickelt eine Leidenschaft dafür, jungen Mädchen unter den Rock zu fotografieren und bringt es dabei zu einer artistischen Meisterschaft, die ihn schließlich sogar zum Boss einer ganzen Voyeur-Bande werden lässt.

Unterdessen wird auch Yus Vater zum Sünder, er begegnet der hysterischen Kaori (Makiko Watanabe) und lässt sich auf eine leidenschaftliche Affäre mit ihr ein, bis sie plötzlich wieder aus seinem Leben verschwindet. Als sie wieder auftaucht, wird es kompliziert. Denn ausgerechnet Yoko (Hikari Mitsushima), die Ziehtochter Kaoris ist die Frau, die sich als Yus große Liebe entpuppt. Doch Yoko will von ihrem neuen Stiefbruder im Speziellen und den Männern im Allgemeinen nichts wissen; sie hat sich in die mysteriöse Miss Scorpion verliebt – nicht wissend, dass sich dahinter just der verhasste und ziemlich verdrehte Yu verbirgt. Und dann gibt es da noch die Sekte der Zero Church, die sich in den Kopf gesetzt hat, ausgerechnet Yus schräge Familie mit allen Mitteln zu konvertieren. Was nun beginnt, ist ein Kampf um die Liebe des Lebens, gegen religiösen Wahn und für das Recht, ein klein wenig pervers zu sein…

Katholizismus und Karate, die Jungfrau Maria und sexuelle Perversionen, monsterhafte Erektionen und die eine große, unschuldige Liebe, verdrehte Familienbande und fanatische Fundamentalisten, dazu reichlich Zitate aus der Popkultur, Porno und Filmgeschichte, aus Religion und klassischer Musik, aus Abel Ferrara, Dogma und dem Splatterfilm: Wilder und abwechslungsreicher kann ein Film wohl kaum sein. Und doch ist in Love Exposure alles wie aus einem Guss geraten, ist der Film trotz seiner gigantischen Laufzeit ein äußerst kurzweiliges, beinhartes und zugleich hochromantisches Filmmärchen, wie man es in dieser Fülle nur sehr selten zu sehen bekommt. Locker werden hier die Grenzen zwischen E und U, zwischen Drama, Komödie, Gesellschaftsanalyse, Religionskritik, Exploitation und Coming-of-age-Film lustvoll niedergerissen und aus den Trümmern etwas gänzlich Neues und sehr Innovatives errichtet, ein im positiven Sinne durch und durch wahnsinniges Werk, wie man es wahrlich nur ganz selten auf der großen Leinwand zu sehen bekommt.

Ginge es mit rechten Dingen zu, müsste dieser Film eigentlich zum Pflichtprogramm an deutschen Filmhochschulen werden. Um zu zeigen, wie man von den Schmerzen des Heranwachsens etwas erzählen kann, ohne die immer gleichen Erzählmuster und sich stets gleichenden Bilder zu bedienen. Ein wildes Fest, eine Orgie — das ist es, mit dem man dieses Kinowunder vielleicht am besten vergleichen kann.

Love Exposure

Eigentlich gehören Filme, die annähernd vier Stunden Laufzeit aufweisen, ja verboten. Denn erstens sind sie nicht nur extrem strapaziös für das Sitzfleisch der Zuschauer, sondern vermasseln zweitens jedem Kinobetreiber auch noch das Geschäft. Statt zwei Vorstellungen reicht der Abend bei einem Film wie diesem nur noch für eine. Und das in Zeiten der Krise – welche Rücksichtslosigkeit. Bei Sion Sonos 237 Minuten langem Film Love Exposure / Ai no mukidashi aber sind solche Einwände spätestens nach dem Verlassen des Kinosaals wie weggewischt.
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Meinungen

Dschuga · 29.08.2012

Bester Film der 0ler Jahre!

jerrick · 12.08.2010

best movie of 2009

Till Wollheim · 19.02.2010

Es wäre schön wenn immer auch die Sprachvarianten angegeben würden und die Kinos dazu übergehen würden, Filme multilingual mit Kopfhörern für Minoritätssprachen anbieten würden!! Dazu auch wann es auf DVD zu haben ist!