Livid - Das Blut der Ballerinas (2011)

Eine Filmkritik von Lida Bach

Trauermarsch für eine Marionette

„Heterochromie.“ Ein Lächeln schimmert in Lucies Augen, als sie deren farbliche Verschiedenheit erklärt. Unverwandt begegnen sie dem Betrachter in der frühesten und intimsten Einstellung, die Livid — Das Blut der Ballerinas von der Schwesternschülerin gewährt. Die Augen sind es, die Miss Wilson (Catherine Jacob) an Lucie, welche die Altenpflegerin in einem nasskalten Küstenort als Praktikantin begleitet, auffallen und Vorzeichen der psychischen Brüchigkeit des unscheinbaren Mädchens (Chloé Coulloud), nach deren Melodie Julien Maurys und Alexandre Bustillos Schreckensmenuett tanzt.

Ist Lucie die Hauptfigur der Gespenstersonate, die ihren feinen Subtext mit der visuellen Wucht ihres gotischen Bilderrausches zu übertönen droht? Ist es nicht in Wirklichkeit Anna (Chloé Marcq), deren allegorische Tragödie in einer sich immer tiefer in die Handlung verstrickenden Rückblende vom Interludium zum eigenen Thema schwillt? Oder gibt es keine Hauptfigur in dem filmischen Notturno, deren Szenen der klaustrophobische Einblick in eine bipolare Seele sind? Die voneinander abweichenden Augenfarben Lucies sind das markanteste und zugleich komplexeste Sinnbild für das unterschwellige Thema der erratischen Gruselfantasie: Dualität. Alle Angelpunkte der Handlung, Charaktere, Requisiten und Aktionen doppeln sich, teils so oft, dass sie sich wie einander gegenübergestellte Spiegel unendlich duplizieren.

Lucie ist das jüngere Pendant Miss Wilsons, deren Zynismus eine Steigerung von Lucies Distanziertheit ist. Bei beiden ist die Abstumpfung Folge eines in jüngeren Jahren miterlebten Mordes: der Selbstmord von Lucies Mutter und die Ermordung eines Mädchens aus Miss Wilsons Ballettgruppe durch deren Lehrerin Madame Jessel (Marie-Claude Pietragalla). Stets ist eine Mutterfigur Täterin und beherrscht als solche die Tochter. Lucies tote Mutter spukt ihr buchstäblich durch den Kopf in Visionen, welche die schizophrenen Charakterzüge des Mädchens andeuten. Die ehemalige Ballerina Madame Jessel wiederum herrscht in einer Art Geisteskontrolle über die längst erwachsene Schülerin, der sie neben dem Tanzen auch das Töten beigebracht hat. Jahrzehnte später besuchen Miss Wilson und ihre junge Begleiterin auf ihrer Dienstrunde die monströse Übermutter, die reglos in ihrem Bett liegt – gleich einem menschlichen Pendant der Tierpräparate in ihrem Zimmer.

Dieses besitzt die erstickende Düsterkeit einer Gruft und den morbiden Prunk eines Mausoleums. Im Gegensatz zu den übrigen Patienten, die vereinsamt dem Tod entgegen blicken, vegetiert Mrs. Jessel in schmarotzerischer Weise von ihm fort. Die Unersättlichkeit der Ogerin, die Miss Wilson mit dem Jungfernblut nährt, bezeichnet die vampirische Psyche der Wiedergängerin der ungarischen „Blutgräfin“ Erzsébet Báthory. Ihr grausamer Perfektionismus gebiert die Tochter, deren Puppengesicht ein makaberes Geheimnis birgt. In jenem Geheimnis, so erklärt Miss Wilson Lucie, „liegt oft der Wert eines Schatzes.“ Und den suchen Lucie, ihr Freund William (Félix Moati) und sein Bruder und symbolischer Gegenpart Ben (Jérémy Kapone) an Halloween in der abgelegenen Villa.

Das Zimmerlabyrinth verwandelt sich in ein Gruselkabinett, dessen Schreckenskammern jede einen anderen Spuk beherbergen und von Treppenknarren sowie Echos verzerrten Melodien. Eine solche ertönt aus der grotesken Spieluhr, die Lucie mit dem Schlüssel von Mrs. Jessels Hals aufzieht, und ungeladene Gäste zum Danse Macabre lädt. Das französische Autoren- und Regie-Duo, das sich vor wenigen Jahren bereits mit seinem Debüt Inside / À l’interieur im Horrorgenre hervortat, inszeniert sein zweites Werk zwischen tiefenpsychologischer Phantasmagorie und märchenhaftem Symbolismus. Beide fließen zusammen in einen Strudel klassischer Horrormotive, dessen kalter Sog Filmemacher und Filmbetrachter, Handlung und Figuren gleichermaßen verschlingt.

„Neugierig und ungeduldig. Du hast alles, was es braucht, um es noch weit zu bringen, meine Hübsche“, begrüßt Miss Wilson Lucie in dem Totenhaus mit insgeheimer Anerkennung. Diese gebührt auch dem filmischen Panoptikum, dessen Inspirationen von E. T. A. Hoffmann über Folklore bis zu sadistischen Klassikern des französischen Horrors reichen und dessen lustvolle Schauerszenen den fast verlorenen Geist des verwässernden Genre-Festivals atmen.
 

Livid - Das Blut der Ballerinas (2011)

„Heterochromie.“ Ein Lächeln schimmert in Lucies Augen, als sie deren farbliche Verschiedenheit erklärt. Unverwandt begegnen sie dem Betrachter in der frühesten und intimsten Einstellung, die „Livid — Das Blut der Ballerinas“ von der Schwesternschülerin gewährt.

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