Lichtgestalten

Eine Filmkritik von Alina Impe

Das Gestern löschen

Viel braucht der Mensch im Grunde nicht, um sich vollständig zu fühlen. Jeder, der wegen einem Umzug oder einer längeren Reise schon mal dazu gezwungen war, seine Habseligkeiten auf ein Minimum zu begrenzen, weiß das. Ein bisschen Kleidung, ein paar persönliche Gegenstände, ein Laptop, ein Handy, ein Personalausweis. Manche brauchen nicht mal ein dauerhaftes Dach über dem Kopf und ein eigenes Bett.
Wer sich des materiellen Überflusses entledigt, flirrt seltsam erleichtert durch die Welt und bekommt ein Gefühl dafür, was es heißt, wirklich frei zu sein. Trotzdem: Große Teile unserer Existenz manifestieren sich in der Materialität, die uns umgibt. In Dingen, die unser Dasein bezeugen und unsere Vorlieben, unsere Persönlichkeit, unsere Geschichte und unseren Status in der Gemeinschaft widerspiegeln. Es scheint beinah in uns angelegt, immer mehr von diesen Identitätsbezeugungen anzuhäufen. Wer mehr besitzt, ist folglich mehr da. Und je stärker wir unser Sein in die uns umgebende Dinglichkeit einschreiben, umso schwerer fällt es, loszulassen.

Katharina (Theresa Scholze) und Steffen (Max Riemelt) fassen dennoch den Entschluss, alle Beweisstücke ihrer irdischen Existenz zu vernichten. Alles soll zurück auf Anfang gesetzt werden, zurück auf Null. Weg mit der schönen Wohnung, der teuren Einrichtung, den tollen Jobs und dem Geld auf ihrem Konto. Das einzige, woran sie festhalten möchten, ist ihre Liebe zueinander. Wirkliche Freiheit lautet das Ziel, das nach Jahren als konforme Mitglieder der Konsumgesellschaft nicht nur immer weiter in die Ferne gerückt ist, sondern gleichzeitig als fremdartige und abstrakte Idee in den Köpfen des Paares vibriert.

„Luxusprobleme“ sagen ihre Freunde Robert und Paul dazu. Unverständnis und Irritation ist die Reaktion auf ihr Vorhaben, mit der sie bereits gerechnet haben. Der Plan steht trotzdem. Möbel, Bilder, Textilien und Erinnerungen werden euphorisch zersägt, zerrissen und zertreten, Geldscheine werden portionsweise in Plastiktüten verpackt und wahllos in der Öffentlichkeit verteilt. Spätestens jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Lichtgestalten von Christian Moris Müller ist ein Kammerspiel, das seine diegetische Welt von innen heraus etappenweise dekonstruiert und abrüstet. Auf die Ordnung folgt das Chaos, auf das Chaos folgt das Nichts. Weichgezeichnet durch Zeitlupen sowie Farben- und Schattenspiele zerfällt das alte Leben des Paares, das sich in On- und Off-Dialogen immer wieder seines gemeinsamen Wunsches rückversichert. Gespräche und Interaktionen, die zuweilen etwas gekünstelt und übertrieben poetisch erscheinen, jedoch eine wichtige Frage aufkeimen lassen: Kann man gemeinsam frei sein?

Denn wer sich aller existenzieller Abhängigkeiten entledigen will, wird zwangsläufig seine emotionalen Beziehungen zu anderen in Frage stellen. Gemeinsam angehäufte Materie verbindet, weil sie Erinnerungen greifbar werden lässt und präsent hält. Ohne sie ist der Schritt vom Wir zum einstigen Du und Ich nicht weit. Das Auflösen, Zerteilen oder auch Zerstören einer gemeinsamen Basis – meist ist es die Posttherapie und seelische Endreinigung einer längst gescheiterten Beziehung. Steffen und Katharina bemerken zu spät, dass ihre persönliche Revolution zum Kampf zweier Individuen um ihr Wir-Gefühl geworden ist. Dass die Leere, die sich um sie herum ausbreitet, ihre Gefühle füreinander zu verschlucken droht.

Als filmisch umgesetztes Gedankenexperiment liest sich Lichtgestalten als Aufforderung, das Was-wäre-wenn-Szenario zu Ende zu denken. Wunschgedanken an ein Leben ohne Ballast, in dem das Gestern einfach ausradiert wird, halten sich hartnäckig. Die Realität als weiße Leinwand mit dem Potenzial eines gänzlich neuen Bildes – es ist eine radikale und zugleich verlockende Idee. Doch wer alles loslässt, gibt auch alles auf. Und wer wirklich frei ist, hat immer eine Wahl.

Lichtgestalten

Viel braucht der Mensch im Grunde nicht, um sich vollständig zu fühlen. Jeder, der wegen einem Umzug oder einer längeren Reise schon mal dazu gezwungen war, seine Habseligkeiten auf ein Minimum zu begrenzen, weiß das. Ein bisschen Kleidung, ein paar persönliche Gegenstände, ein Laptop, ein Handy, ein Personalausweis.
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Meinungen

Rudolf M. · 24.07.2017

Ein Film über die persönliche Lebensvision, der tief und tiefer geht, aber zugleich dem Zuschauer eine klare mögliche eigene Film-Lösung verweigert. Der ihn so auf sich selbst zurückwirft, dass echte eigene Gedanken ausgelöst werden. Die beiden Haupt-Schauspieler sind natürlich Spitze. Theresa Scholze hatte ich schon in Christian Müllers „4 Fenster“ erlebt, und konnte auchnach der Premiere mit ihr sprechen. Max Riemelt - einfach cool. Später konnte ich den Film nochmals in München sehen und entdeckte neue Feinheiten, die mir entgangen waren: Die brilliante Musik, die so tief wirkt. Das ganze in Kombination mit dem Farbenspiel, bis zum Feuer auf der Leinwand. Die Gags wie bei den Würfen auf den Spiegel…den Einsatz der Kreissäge….Der Tanz um die Möbel….die bohrenden Fragen der Freunde. Ein Genuss und Ansporn für mich selbst als Psychologen.
Eine Muss DVD