Kent Nagano - Montreal Symphony

Eine Filmkritik von Lena Kettner

Schläft ein Lied in allen Dingen

Dieses musikalische Abenteuer beginnt dort, wo das Herz der kanadischen Seele schlägt: Im Centre Bell, Austragungsort der Heimspiele des Montréaler Eishockeyteams Canadiens de Montréal. Unter frenetischem Applaus empfängt die Menge den Star des Abends. Nein, nicht etwa Jon Bon Jovi oder Bono von U2. In gewohnt zurückhaltender und bescheidener Manier betritt der weltweit gefeierte Dirigent Kent Nagano die Bühne des ungewöhnlichen Konzertsaals. Sobald die ersten Takte von Beethovens Sinfonie Nr. 5 in c-Moll erklingen herrscht andächtige Stille an diesem Ort, an dem unter normalen Umständen durch zahlreiche Lautsprecherdurchsagen und die Sprechchöre der Fans eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse entsteht.
Kent Nagano – Montreal Symphony ist viel mehr als ein dokumentarisches Porträt über einen der vielseitigsten Dirigenten unserer Zeit, der nicht nur das klassische Opern- und Orchesterrepertoire beherrscht, sondern sich immer wieder auch der musikalischen Umsetzung zeitgenössischer Kompositionen widmet. Der neue Film der deutschen Regisseurin Bettina Ehrhardt schafft ein Bewusstsein für die Musikalität des Raumes, der uns umgibt. Denn alles kann Musik sein, sei es das Vogelzwitschern in der Natur oder der Klang einer einfachen Glasflasche.

„Musik ist die Melodie, zu der die Welt der Text ist“, sagte der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer. Diese Welt ist das Wohnzimmer des 59-jährigen Nagano, zu dessen künstlerischen Stationen so bedeutende Opernhäuser wie die Opéra National de Lyon und die Los Angeles Opera zählen. 2006 wurde der Kalifornier japanischer Abstammung zum Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper in München ernannt. Die Idee für einen gemeinsamen Film hatten Bettina Ehrhardt und Kent Nagano bereits seit längerem, jedoch wollte es der Zufall, dass Montreal Symphony nicht in Deutschland gedreht wurde. Denn in Montréal initiierte Nagano, der seit 2006 auch Generalmusikdirektor des Orchestre symphonique de Montréal ist, in der 75. Jubiläumssaison des frankophonen Traditionsorchesters 2008/2009 spannende und herausfordernde Projekte, die einmal mehr ein Ausdruck seines Selbstverständnisses als musikalischer Mittler zwischen den Welten sind.

Der Regisseurin gelingt es in Montréal Symphony gerade wegen des Verzichts auf Archivmaterial, nicht nur einen Zugang zu dem Künstler, sondern auch zu dem Menschen Nagano zu finden. Respektvoll und mit einer gewissen Ehrfurcht begegnet sie dabei dem hochgebildeten und vielseitig interessierten Stardirigenten, der sich trotz seiner Offenheit in den Interviewsituationen eine unnahbare und mysteriöse Aura bewahrt. Bettina Ehrhardts episodisch angelegter Film wurde in Montréal und während Konzertreisen nach Nunavik, Paris und München gedreht und ist eine wohldurchdachte Komposition aus Interviews mit Nagano und Mitgliedern des Montréaler Orchesters, Proben- und Konzertmitschnitten und aus berührenden Begegnungen außerhalb des Konzerthauses. Geräusche und Klänge an den jeweiligen Drehorten sowie musikalische Versatzstücke aus den Konzerten des Orchesters bilden das Bindeglied zwischen den in sich abgeschlossenen Szenen und vermitteln ein Gefühl von Kent Naganos geschärften Wahrnehmung der ihn umgebenden Welt.

In diese Welt da draußen möchte der Dirigent seine Musik hinaustragen und sieht sie daher nicht nur für einen bestimmten, elitären Hörerkreis reserviert. So ist auch Montreal Symphony nicht nur ein Film für die Kenner klassischer Musik, sondern lädt gerade die Skeptiker ein, ihre Vorbehalte zu überwinden und sich dem Zauber der Musik hinzugeben. Auch die Orchestermitglieder aus Montréal ließen sich von der Begeisterungsfähigkeit ihres Dirigenten anstecken und entdeckten eine neue Art des Musizierens. Ein Orchester in einer Stadt, die stolz auf ihre europäischen und amerikanischen Traditionen ist und deren kulturelle Vielfalt sich auch in seinen Reihen widerspiegelt. Unter Naganos Führung erfolgte die Uraufführung eines Stückes für Radiosprecher und Orchester des Montréaler Komponisten Simon Leclerc sowie die Uraufführung des Stückes Take the Dog Sled der kanadischen Komponistin Alexina Louie. Letzteres war aus einem außergewöhnliches Experiment heraus entstanden: einer Reise in die karge Landschaft des kanadischen Nordens, zu den Inuit nach Nunavik. Voller Neugier lauschen die jungen Inuit im Film den Erklärungen einer Geigerin und eines Fagottisten, staunen über diese seltsamen Instrumente, die sie zuvor noch nie gesehen haben. Dieser Moment wird für den ein oder anderen jungen Menschen eine Initialzündung sein, oder gar der Beginn einer großen Liebe. Ähnlich wie bei Kent Nagano, der seine musikalische Passion mit etwa mit 10 Jahre entdeckte und von da an begann, freiwillig und nicht mehr auf Anordnung seiner Mutter hin Klavier zu üben. Einer der ergreifendsten Momente des Films findet schließlich in einem Versammlungsraum der Inuit statt, in dem Nagano mit seinem Orchester Mozarts Eine kleine Nachtmusik aufführte. Der Blick der Kamera ruht in diesem Augenblick auf den Blicken der Kinder, die hochkonzentriert und vollkommen überwältigt der Schönheit dieser für sie neuartigen Klänge lauschen. Wenig später werden zwei Frauen aus Nunavik nach Montréal reisen, um in dem Stück Take the Dog Sled mit dem typischen Kehlkopfgesang der Inuit von einer beinah in Vergessenheit geratenen Kultur zu erzählen.

„Ich träume von einer Welt, in der jeder Mensch die Möglichkeit hat, seinen Weg zur Kunst zu finden“, meinte Kent Nagano einmal. Damit diese Welt nicht für viele Menschen verschlossen bleibt, bedarf es Wegbereiter wie Kent Nagano. Und Dokumentarfilmern wie Bettina Ehrhardt, denen es gelingt, musikalische Empfindungen und Eindrücke in faszinierenden Bildern zu transportieren.

Kent Nagano - Montreal Symphony

Dieses musikalische Abenteuer beginnt dort, wo das Herz der kanadischen Seele schlägt: Im Centre Bell, Austragungsort der Heimspiele des Montréaler Eishockeyteams „Canadiens de Montréal“. Unter frenetischem Applaus empfängt die Menge den Star des Abends.
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