Junges Licht (2016)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Vom Drama des Lebens im alten Ruhrpott

Früher, als die Kindheit einen zu langweilen begann, konnte selbst den Sommerferien etwas Tristes anhaften. Für den zwölfjährigen Julian Collien (Oscar Brose) kristallisiert sich in dieser Zeit, die er daheim in einer Bergbausiedlung im Ruhrpott verbringen muss, der stickig-schwüle Mief der 1960er Jahre heraus. Er streckt seine Fühler aus, um die Welt zu begreifen, aber in seinem Umfeld ist jeder in seinem eigenen Käfig gefangen. Dem im Ruhrgebiet aufgewachsenen Regisseur Adolf Winkelmann (Die Abfahrer, Nordkurve) ist mit Junges Licht ein wunderbares Stimmungsbild und Sittengemälde der 1960er Jahre an diesem legendären deutschen Wirtschaftsstandort gelungen. Das Drama basiert auf dem gleichnamigen Roman von Ralf Rothmann aus dem Jahr 2004 und erweist sich als unvergleichlich schöne Literaturverfilmung.

Julian versteht nicht, was um ihn herum passiert. Mutter Liesel (Lina Beckmann) bringt beim Abendbrot wenig Interesse auf für die Erzählungen des Vaters Walter (Charly Hübner) über seine Arbeit unter Tage. Und er, der Sohn, muss sich unauffällig verhalten, damit ihn nicht wieder ihr Kochlöffel trifft. Dann liegt die Mutter eines Tages im Bett und hat das Essen nicht auf den Tisch gestellt. Weil es etwas Seelisches ist, fährt sie zur Erholung an die Küste und nimmt nur Julians jüngere Schwester Sophie mit. Abends, wenn der Vater Schicht hat, fürchtet sich Julian, aber der Vater verbietet ihm, die Tür abzuschließen: Was solle ihm denn hier schon passieren! Dass der Vermieter, Herr Gorny (Peter Lohmeyer), ihn in schlüpfrige Gespräche verstrickt und zum Kartenspielen kommen will, muss Julian mit sich allein ausmachen.

Die 1960er Jahre werden mit großem Realismus als kinder- und frauenfeindliche Zeit demaskiert. Julian kann vom kleinen Balkon der Wohnung ins Zimmer der 15-jährigen Stieftochter Gornys, Marusha (Greta Sophie Schmidt), schauen. Die Dialoge mit der jungen Lolita lassen Julian ahnen, wie unwissend er ist. Als Marusha an einem Sonntag mit Julian und Walter dessen Kumpel Lippek (Stephan Kampwirth) besucht, ergeht sich dieser in anzüglichen Bemerkungen. Die Atmosphäre kann sich schnell sexuell aufladen, ganz so, als gebe das Korsett aus Pflicht und Moral auch bereits dem Tabubruch eine Form.

Der Blick vom Balkon des rußgeschwärzten Mietshauses zeigt das Revier mit seinen qualmenden Schloten. Es liegt eine rohe Gewalt in dieser Landschaft, der Mensch ist darin zum Malochen bestimmt. Die Kamera begleitet Walter und seine Kumpel auch unter Tage und vermittelt ein eindrückliches Bild der körperlichen Belastung, die dort herrscht. Wenn die Arbeit zu Ende ist, beginnt mit der Reproduktionsphase der Leerlauf, mit der Folge, dass sich Walter, und nicht nur er, auf diffuse Weise überflüssig vorkommt. Die Kamera registriert mit Anteilnahme die Isolation der Figuren, ihre ihnen selbst kaum bewusste Sprachlosigkeit. Und auch in Julians Blick gibt es die verhaltene Zärtlichkeit, mit der im Roman der junge Ich-Erzähler die Umgebung deutet. Oscar Brose, der zum ersten Mal vor der Kamera steht, spielt Julian hervorragend in seiner wortkargen, kindlichen Sinnsuche, die an das Gute glaubt.

Auch die Bildgestaltung mutet wie ein nostalgischer Kommentar zu der Rohheit der Motive an. Permanent wechselt der Film zwischen Farbe und Schwarzweiß. Das Format kann fast quadratisch eng sein und dann wieder breit. Der Blick zurück ist eben ein subjektiv intensiver, und doch auch von einem inneren Kopfschütteln begleitet. Kaum jemals wird jedoch ein Kommentar von der heutigen Warte aus explizit, außer vielleicht, wenn das Steigerlied in einer rockig-modernen Version erklingt und sich dabei von den sonst eher unschuldigen Klängen der Filmmusik abhebt. Rothmann findet, „Winkelmann hat ein eigenständiges Kunstwerk geschaffen – ein Meisterwerk mit dem Zeug zum Klassiker!“ Wenn der Schriftsteller das über die Verfilmung seines Buchs sagen kann, dann hat er wohl darin die selbst angestrebte Wahrhaftigkeit neu entdeckt.
 

Junges Licht (2016)

Früher, als die Kindheit einen zu langweilen begann, konnte selbst den Sommerferien etwas Tristes anhaften. Für den zwölfjährigen Julian Collien (Oscar Brose) kristallisiert sich in dieser Zeit, die er daheim in einer Bergbausiedlung im Ruhrpott verbringen muss, der stickig-schwüle Mief der 1960er Jahre heraus.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Rüdiger · 25.04.2023

Der Film erinnert mich sehr an meine Kindheit.... Da bin ich aufgewachsen.
In der Szene, wo der Junge von seiner Mutter in der Küche den Hintern versohlt bekommt erkenne ich mich wieder! Hab damals von meiner Mutter auch so gekriegt, aber wie!
Mit dem Unterschied, dass sie mir vorher die Lederhose runterzog und ich kriegte es auf den blanken Hintern!
Sehr gut gemachter Film!

wignanek-hp · 21.06.2016

Ein wunderschöner Film, der lange nachhallt, gerade wegen seiner oft lange stehengelassenen oder nahezu stummen Szenen, der viel über die Menschen erzählt, sie aber nie bloßstellt. Man ahnt in fast jeder Szene, warum die Menschen sich so verhalten und in welcher Beschränktheit sie zwangsläufig existieren müssen. Der Wechsel der Formate ist ein gelungenes Stilmittel, um die verschiedenen emotionalen Ebenen der Geschichte deutlich zu machen. Der junge Hauptdarsteller ist phänomenal.
Unbedingt anschauen!!!

Hans M. · 27.05.2016

Ein toller Film. Die Schulszene am Anfang hätte ich mir anders vorgestellt. In unseren Schulen wurde zu der Zeit der gelbe Rohrstock geschwungen. Die Lehrer hatten es besonders auf Jungen in so kurzen Lederhosen abgesehen. Man musste sich über die Bank legen und bekam dann drei bis sechs Hiebe aufgebrannt. Nicht mehr. Es war immer ein besonderes Ritual und wurde fast täglich vollzogen. Die Eltern haben sich nie beschwert. Heute nicht mehr denkbar, und das ist gut so.

Rüdiger · 25.04.2023

Hab auch mit dem Rohrstock gekriegt, aber wie! In der Schule auf die Lederhose, zuhause musste ich diese ausziehen und kriegte es von meiner Mutter auf den Nackten!
Zu der Zeit kriegte ich mit 16 noch von ihr!

Sascha · 17.05.2016

Trotz ein paar Längen insgesamt klasse Film. Wahrscheinlich aber nur richtig zu würdigen, wenn man A) aus dem Pott und B) min. Mitte/Ende 40 ist ;-), um in Erinnerungen zu schwelgen und vieles wieder zu erkennen.
Nicht-Eingeborene des Potts und jüngeres Publikum werden sich vlt. etwas schwer tun ...;-)