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Léonor Serraille präsentiert uns keine liebliche Heldin in einem Postkarten-Paris, sondern eine widerspenstige Frau in einer oftmals menschenfeindlichen Umgebung, in welcher dennoch so etwas wie flüchtige Verbundenheit entstehen kann.

Bonjour Paris (2017)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Paris, je te déteste

„In Paris ist kein Platz für Fantasie, hier gibt’s zu viel Geld“, stellt Paula in einem Gespräch mit einem späteren Kollegen fest. „Diese Stadt mag keine Menschen.“ Zuvor haben wir erlebt, wie sie voller Zorn, laut brüllend gegen eine Wohnungstür hämmert – ehe sie mit einer Platzwunde am Kopf in einer Klinik landet und sich dort so sehr in Rage redet, bis sie ruhiggestellt werden muss.

Schon in diesen ersten Minuten von Léonor Serrailles Langfilmdebüt Bonjour Paris wird uns klar, dass Paula Simonian keine niedliche, Amélie-eske Protagonistin ist – und dass das Werk nicht dazu dienen soll, möglichst tourismusfördernde Aufnahmen der französischen Metropole zu liefern. Und man kann nur sagen: Was für ein Glück! Sowohl für uns als auch für das Kino der Grande Nation. Denn ohne Übertreibung lässt sich festhalten, dass Paula in ihrer anstrengenden, durchweg widerständigen Art zu den spannungsreichsten Frauenfiguren des modernen französischen Films zählt und dass deren Interpretin Laetitia Dosch eine wahrlich furiose Leistung zeigt, um diesen stark gezeichneten Charakter auf die Leinwand zu bringen.

Die 31-jährige Paula lebte zehn Jahre mit dem älteren Fotografen Joachim Deloche (Grégoire Monsaingeon) – ihrem ehemaligen Dozenten – zusammen, lange Zeit davon in Mexiko. Mit ihr als Fotomodell wurde er bekannt, doch nun hat er sie nach der Rückkehr nach Frankreich aus seiner Pariser Wohnung verbannt. Sie könne sich allerdings anpassen, meint Paula zu Beginn gegenüber dem Notarzt (Jean-Christophe Folly) – sogar in schwierigen Situationen.

Also schnappt sie sich kurzerhand einen roten Wintermantel, entlässt sich selbst aus der Klinik und fängt an, ums tägliche Überleben zu kämpfen. Sie entführt die Katze ihres Ex-Freundes, tanzt losgelöst auf Partys von Bekannten, bemüht sich um einen Job in der Dessous-Abteilung eines Kaufhauses, lässt sich von einer jungen Tänzerin (Erika Sainte) als Nanny für deren Tochter Lila (Lila-Rose Gilberti) anheuern, um ein Dienstmädchenzimmer als Wohnung nutzen zu können – und schummelt sich stets mit kleinen Notlügen durch. Mal gibt sie sich als Ordnungsfanatikerin aus, um im Vorstellungsgespräch zu punkten; mal behauptet sie, Kunst zu studieren, um als geeignetes Kindermädchen zu erscheinen.

Wiewohl Paula oft die Unwahrheit sagt, wirkt sie durch und durch aufrichtig. Als die hippe Yuki (Léonie Simaga) sie etwa für eine einstige Mitschülerin hält und sie das Missverständnis nicht aufklärt, nutzt Paula diese Situation zwar durchaus aus – doch wenn sie Yuki später, als diese die Täuschung bemerkt, erklärt, sie habe sie einfach schon lange kennen wollen, als sie von ihr in der Métro auf die vermeintliche gemeinsame Vergangenheit angesprochen wurde, da glaubt man ihr das sofort. Vieles von dem, was Paula im Laufe der Handlung tut, ist ziemlich unvernünftig und destruktiv, auf einer emotionalen Ebene hingegen immer begreiflich.

In den zahlreichen Begegnungen, die Paula in der titelgebenden, verhassten Stadt hat, geschieht es häufig, dass die junge Frau ihr Gegenüber durch ihre Unbefangenheit dazu bringt, sich überraschend zu öffnen – so zum Beispiel eine Ärztin (Audrey Bonnet), die plötzlich im Gespräch mit Paula ihre eigene Einsamkeit und Verlorenheit erkennen lässt. Etliche Sequenzen würden auch als klug und genau beobachtete Kurzfilme über temporäre Vertrautheit funktionieren – nicht zuletzt die schmerzhaften, vom Rohen bis zum Zärtlichen gehenden Aufeinandertreffen mit der entfremdeten Mutter (Nathalie Richard).

Wunderbar unterstützt von Julie Roués einnehmender Musik sowie der hervorragenden Kameraarbeit von Emilie Noblet begleiten wir diese ungewöhnliche Heldin durch einen Lebensabschnitt, der stets als Übergang aufgefasst wird: „Ist ja nicht für immer“, stellt Paula klar, als sie im wenig einladenden Dienstmädchenzimmer unterkommt. Wenn wir Paulas urbane Odyssee schließlich als Begleiter_innen verlassen müssen, ist das kein runder Abschluss eines dritten Aktes, sondern lediglich das Ende einer Station, auf welche gewiss viele weitere Stationen folgen werden. „Ich will sterblich sein, den Mut haben, sterblich zu sein“, sagt Paula zu Beginn. Und tatsächlich haben wir das Gefühl, einem Menschen, keiner Drehbuchfigur, zugesehen zu haben.

Bonjour Paris (2017)

Egal wo Paula auftaucht – überall sorgt sie für Unruhe. Kaum ist die 31-Jährige aus dem Ausland in ihre Heimatstadt Paris zurückgekehrt, da steht sie schon mit einer Platzwunde und einer Perserkatze auf dem Arm vor den verschlossenen Wohnungstür ihres (Ex-)Freundes. Und auch bei ihrer eigenen Mutter findet sie keine Aufnahme, so dass sie sich auf eine Odyssee durch die Stadt begeben muss, um endlich wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Léonor Serrailles Debüt gewann 2017 die Caméra d’Or in Cannes.

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