Imagine Waking Up Tomorrow and All Music Has Disappeared

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Der Klang der Welt

Erinnert sich noch jemand an die Band The KLF, die Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre kurz, aber heftig die Popmusik erschütterte? Deren Songs wie „Doctorin the Tardis“ oder „Last Train to Trancentral“ kann wahrscheinlich noch heute jeder nachsingen; sucht man allerdings nach diesen Stücken auf CD oder wartet im Radio auf deren Ausstrahlung, wird man zwangsläufig enttäuscht werden. Denn nach dem skandalumwitterten Ende ihrer Karriere, das die Musiker Bill Drummond und Jimmy Cauty selbst bei der Verleihung der Brit Awards 1992 mit einem legendären Abgang von der Bühne befeuert hatten (den mindestens ebenso legendären Auftritt vor dem Abgang kann man hier bestaunen), verweigerten sich die beiden der Vereinnahmung und weiteren kommerziellen Verwertung ihrer Songs. Sie erwarben alle Wiederaufführungsrechte ihrer Songs und untersagten deren weitere Auswertung. So radikal hatte in der Geschichte des Pop noch niemand mit den Mechanismen des Marktes gebrochen.
Heute ist Bill Drummond nicht mehr so wütend wie damals, aber ein Querdenker und Freigeist in Sachen Musik ist er immer noch. Wie radikal seine Ansichten auch heute noch sind und wie kreativ sie immer noch die scheinbar gegebenen Gesetze des Musikbusiness hinterfragen, davon handelt unter anderem Stefan Schwieterts Roadmovie Imagine Waking Up Tomorrow An All Music Has Disappeared, der vordergründig Drummond bei eine Aktion begleitet, die der Musiker von 2003 bis 2013 initiierte: The17. The17 ist eine Art ortloser Chor, der auf Scores basiert, also kurzen Handlungsanweisungen, wie Einzelteile eines Musikstücks von verschiedenen Menschen bzw. Chören auszuführen sind. Geschrieben wurden diese Scores von Drummond selbst, aber sie konnten auch von Menschen vorgeschlagen und eingereicht werden. Und an einer Stelle, einer der schönsten in diesem überaus zärtlichen und nachdenklichen Film, sehen wir Drummond, wie er eine Schulklasse dazu ermutigt, selbst solche Scores zu ersinnen — mit teilweise erstaunlichen Ergebnissen.

Diese Grundbausteine wurden von Bill Drummond aufgenommen, arrangiert und zu einem Musikstück zusammengesetzt, das dann am Ende seiner musikalischen Reise einmal aufgeführt und danach sofort wieder zerstört wurde. Es ist ein Projekt, das viel näher an den Aktionen der Fluxus-Bewegung und an der Konzeptkunst angesiedelt ist als an dem, was wir gemeinhin unter Musik verstehen und das zugleich als Reaktion auf die Entwicklungen zu begreifen ist, die die Musikwelt durch die digitalen Umbrüche in den vergangenen zwei Jahrzehnten durcheinander gewirbelt haben.

Was zunächst ein wenig verkopft klingt, hat Stefan Schwietert in berückend erdige Bilder gepackt, die manchmal die gedankliche Größe des Projekts fast ein wenig zu kaschieren scheinen, so bescheiden und scheinbar unspektakulär kommen sie daher. Drummond ist ein zwar ungemein reflektierter und charmanter Mensch, zugleich aber wirkt er in seinen alten Jeans, dem abgewetzten braunen Ledermantel und mit seinem rostigen Land Rover wunderbar normal und bodenständig. Er ist weniger ein beseelter Künstler, sondern vielmehr wie eine Art Handlungsreisender in Sachen Musik, der es versteht, sein Projekt auch Fabrikarbeitern, einem Trupp Straßenbauarbeiter oder einer Gruppe Seniorinnen nahe zu bringen. Der Mann, dessen gedankliche Kühnheit sich erst mit der Zeit erschließt, sucht nicht das Geschliffene, Virtuose und Perfekte in der Musik, sondern vielmehr das zufällig Gefundene, das Raue, das Ungeschliffene — kurzum: den Klang der Welt, den er als Rohmaterial begreift.

Es hat den Anschein, dass der musikalische Weltenbummler und Grenzgänger Bill Drummond in Stefan Schwietert einen Bruder im Geiste gefunden hat. Dessen Bilder und Inszenierungen erlauben sich kaum je Extravaganzen (von einem im Fond des Land Rovers sitzenden und fröhlich brummelnden Chor von Wikingern mal abgesehen), sie lassen diesem Chorleiter und seinen Mitgliedern Raum zur Entfaltung, sie respektieren den Geist und die Intentionen von The17 und schaffen es in der Schlussszene sogar, das Kinopublikum zum Teil des Ensembles werden zu lassen. Auf diese Weise wird Imagine Waking Up Tomorrow And All Music Has Disappeared zu einem gelungenen Konglomerat verschiedenster Couleur: Der Film ist gleichermaßen ein persönliches Porträt wie auch ein Essay über das Wesen der Musik, er ist heiter und ungeheuer ernsthaft, schlicht und tiefgründig, weise und zeitgeistig, eine ganz und gar irdische Reise und eine (Ver)Führung ins Reich der Ideen.

Imagine Waking Up Tomorrow and All Music Has Disappeared

Erinnert sich noch jemand an die Band „The KLF“, die Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre kurz, aber heftig die Popmusik erschütterte? Deren Songs wie „Doctorin the Tardis“ oder „Last Train to Trancentral“ kann wahrscheinlich noch heute jeder nachsingen; sucht man allerdings nach diesen Stücken auf CD oder wartet im Radio auf deren Ausstrahlung, wird man zwangsläufig enttäuscht werden.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen