Gnade

Eine Filmkritik von Festivalkritik Berlinale 2012 von Joachim Kurz

Hellere Tage werden kommen

Tausend Kilometer nördlich des Polarkreises liegt Hammerfest, eine der nördlichsten Städte überhaupt. Im Winter gibt es hier einen Zeitraum, in dem es aufgrund der Lage auch tagsüber niemals hell wird, Polarnacht nennt man diese Zeit. Ein außergewöhnliches Setting für Mathias Glasners wunderschön gefilmtes, aber überaus kontrovers aufgenommenes Drama Gnade, bei dem es um Schuld und Sühne geht – und eben um Gnade.
Zu Beginn sehen wir das Ehepaar Niels (Jürgen Vogel) und Maria (Birgit Minichmayr) sowie ihren Sohn Markus (Henry Stange) beim Abschiednehmen bzw. bei einer Erklärung, warum der Schritt, der ihnen bevorsteht, dringend nötig ist. Um die Ehe steht es nicht zum besten, Niels hat immer wieder Affären und ist wegen seines Jobs als Ingenieur ständig unterwegs, der neue Job unterscheidet sich nun zumindest darin, dass die Familie mitkommt. Es soll ein Neuanfang, eine zweite Chance werden. Doch Probleme nimmt man überall hin mit. Und so beginnt Niels bald schon eine Affäre mit einer neuen Kollegin, Markus hat Schwierigkeiten in der Schule und Maria? Der widerfährt das schwerste Schicksal von allen: Nach einem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit fährt sie jemanden (oder etwas) an und begeht nach einem Moment des Zögerns Fahrerflucht. Zuhause angekommen erzählt sie Niels von dem Vorfall, dieser macht sich sofort auf den Weg, kann aber keinen Körper entdecken – es scheint also alles in Ordnung zu sein. Kurz darauf aber erfahren sie aus der Zeitung, dass das Unfallopfer ein 16-jähriges Mädchen war.

Dann geschieht etwas Seltsames, etwas, das eigentlich gegen beinahe jegliche Dramaturgie verstößt: Das Ereignis und der Schwur, die Sache gemeinsam durchzustehen und keinesfalls zur Polizei zu gehen, gibt ihrer Beziehung, die eigentlich schon am Ende war, einen Schub. Die beiden kommen sich näher, Niels beendet die Affäre und ist endlich wieder bereit, eine Ehe zu führen, die diesen Namen auch verdient. Doch über allem schwebt die Schuld, so dass sowohl Niels wie auch Maria förmlich darauf warten, dass sie für ihr unverschämtes Glück Sühne leisten müssen. Als aber weiterhin nichts geschieht, unternehmen sie gemeinsam einen folgenschweren Schritt…

Eines vorweg bei aller Kritik, die Gnade möglicherweise entgegenschlagen wird. Man hat lange keinen Film mehr aus Deutschland gesehen, der die große Leinwand, der das Format des Kinos in all seiner Größe und Schönheit, in all seiner ästhetischen wie auch emotionalen Kraft so konsequent nutzt wie Mathias Glasners Film Gnade. Am ehesten vergleichen muss man ihn wohl  — auch mangels inländischer Konkurrenz – mit den Filmen der Dänin Susanne Bier – und die ist immerhin Preisträgerin eines Academy Award. Man kann dem Regisseur und seinem Werk einiges vorhalten – unbestreitbar ist aber sein Mut zum großen Kino, seine Lust an den ganz großen Gefühlen, sein Streben nach dem perfekten Bild. Und das ist bei allen (berechtigten) Fragen, die man an diesen Film stellen, eine Qualität, die man nicht hoch genug einschätzen sollte.

Gibt es das wirklich, dieses Glück im Unglück? Und wenn, ist es von Dauer oder ist es so eine schwere Hypothek, dass man eine Art Ausgleichszahlung dafür leisten muss, um die Verhältnisse wieder in eine Balance zu bringen? Dies sind die großen Fragen, die Mathias Glasners neuer Film aufwirft. Und er tut es mit einer derartigen Wucht, dass dem Zuschauer kein Entrinnen bleibt. In Gnade wird alles zum bedeutungsschweren Symbol, zuvorderst das Setting des Handlungsortes mit seinen nachtschattenschwarzen Tagen, die Glasner mit etlichen Kamerafahrten und vor allem Flügen immer wieder in sehenswerte Bilder packt.

Dass auch Markus von der Geschichte seinen Anteil an auf sich geladener Schuld zugewiesen bekommt, indem er sich am Mobbing an einem Mitschüler beteiligt, gehört sicher zu den großen Schwächen dieses Films. Viel interessanter ist nämlich seine andere Funktion innerhalb der Story als derjenige, der zwar nichts weiß von dem Unfall, der aber ahnt, dass etwas geschehen sein muss. Und so beginnt der Junge, seinen Eltern nachzuspionieren und sie heimlich mit seinem iPhone aufzunehmen, als würden ihm die Sequenzen dabei helfen, eine neue Sichtweise auf die Ereignisse zu gewinnen. Erkenntnisse aber gibt es nicht durch die kleinen Filme, sie haben keine Folgen, weder für das Paar, noch für dessen Schuld und erst recht nicht für Markus, der auf seltsame Weise ein Fremdköper bleibt in diesem Drama, das es schafft, ästhetisch fast auf ganzer Linie zu faszinieren, während der überaus getragene Tonfall und die inhaltlichen Diskurse, die Glasner führt, ein mehr als ambivalentes Bild hinterlassen.

(Festivalkritik Berlinale 2012 von Joachim Kurz)

Gnade

Tausend Kilometer nördlich des Polarkreises liegt Hammerfest, eine der nördlichsten Städte überhaupt. Im Winter gibt es hier einen Zeitraum, in dem es aufgrund der Lage auch tagsüber niemals hell wird, Polarnacht nennt man diese Zeit. Ein außergewöhnliches Setting für Mathias Glasners wunderschön gefilmtes, aber überaus kontrovers aufgenommenes Drama „Gnade“, bei dem es um Schuld und Sühne geht – und eben um Gnade.
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