Gangsterläufer

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Renn um dein Leben

Es ist ein äußerst brutales Spiel, das diesem Film seinen Titel gab. An jedem Wochenende wird es gespielt, mit 30 bis 40 Jungs, die im Pulk durch die Straßen rennen und versuchen, nicht von dem einen, dem Fänger, erwischt zu werden. Denn wenn der Fänger einen Mitspieler am Kragen hat, setzt es 30 Sekunden lang Prügel – und zwar ohne Gnade und ohne dass der Gefangene sich wehren darf. Dann ist auch der Gefangene ein Fänger und kann seine Wut und seine Aggressionen an denen auslassen, die er seinerseits erwischt. Derjenige, der am Ende noch übrig bleibt, den keiner erwischen konnte, das ist dann der Gangsterläufer. Und Yehya, um den es in diesem Film geht, ist schon verdammt oft ein Gangsterläufer gewesen, zumindest in diesem Spiel. Und vielleicht ist es ja diese Erfahrung, dieser Kick, die ihm, der als der selbsternannte „Boss der Sonnenallee“ gilt, sein unglaubliches Selbstvertrauen geben.
Im Leben freilich geht es anders zu als bei dieser rabiaten und testosterongeladenen Version des Fangens. Dort kann man nicht einfach weglaufen und darauf hoffen, dass es einen nicht erwischt. Und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis der junge Palästinenser mit dem schlechten Ruf und den ausgezeichneten Noten in der Schule (übrigens die berüchtigte Rütli-Schule) in den Knast wandert – wegen eines Raubüberfalls bekommt er drei Jahre aufgebrummt und muss im Gefängnis am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, wenn man selbst zum Opfer wird.

Regisseur Christian Stahl kennt seinen Protagonisten, seitdem dieser 14 Jahre alt ist, die beiden wohnten im gleichen Haus in Neukölln. Stahl hielt den netten charmanten Jungen für einen ganz normalen Jugendlichen, bis er zufällig mitbekam, wie Yehya seine Mitschüler drangsalierte und begann, ernsthafte Schwierigkeiten zu bekommen. Schockiert von dieser anderen Seite Yehyas beschloss Stahl, den jungen, aus dem Libanon stammenden Mann mit der Kamera zu begleiten – ein Unternehmen, das drei Jahre andauerte und das auch Yehyas Umfeld mit einbezieht, wobei der Regisseur selbst während des Knastaufenthaltes des Jungen seine Hauptperson niemals aus dem Fokus verliert. Dennoch sind es auch die Gespräche mit den völlig überforderten und von den Geschehnissen im Libanon traumatisierten Eltern Yehyas, die einen Eindruck davon vermitteln, wie sehr die Dinge aus dem Ruder gelaufen sind. Selbst wenn man am Ende für einen Moment die Hoffnung hat, dass Yehya sich vielleicht doch eines Tages wird fangen können, so trägt die Saat der Perspektivlosigkeit schon weitere Früchte in der Familie, denn nun sind es die jüngeren Brüder, die dem zweifelhaften Vorbild des „Gangsterläufers“ folgen.

Es ist ohne jeden Zweifel ein Glücksfall, dass sich Stahl und Yehya schon vor dem Film kannten. Denn so ist der Zuschauer ganz nah dran an dem Jungen und versteht schnell, dass dieser nicht einfach nur ein weiterer „Intensivstraftäter“ ist, von denen man in den Medien oder in Büchern gewisser Politiker immer wieder liest und von denen man infolge der Berichterstattung ein vorgefasstes Bild hat. Zudem merkt man schnell, dass Yehya ein überaus intelligenter und charmanter junger Mann ist, der sich selbst und seine eigene Situation (abgesehen von pubertärer Großmäuligkeit) messerscharf analysieren kann. Und wir lernen, wie schwer es für Yehya ist, sich selbst aus der eigenen Misere zu befreien: „So bin ich aufgewachsen. Selbst wenn ich es falsch finden würde, ich würde mich gar nicht trauen, anders zu denken.“

Auf der anderen Seite aber erweist sich die Nähe, die Christian Stahl und seinen Protagonisten miteinander verbindet, als hinderlich. Denn auf eines wartet man vergebens – einen Moment, in dem Yehya seine Gewalttätigkeit und seine Aggressionen endlich einmal ernsthaft hinterfragt. Solange dies nicht geschieht – das immerhin ist neben vielen faszinierenden Milieubeobachtungen eine wesentliche Erkenntnis aus diesem Film -, wird das Leben den „Gangsterläufer“ am Ende immer wieder einholen. So schnell er auch rennt.

Gangsterläufer

Es ist ein äußerst brutales Spiel, das diesem Film seinen Titel gab. An jedem Wochenende wird es gespielt, mit 30 bis 40 Jungs, die im Pulk durch die Straßen rennen und versuchen, nicht von dem einen, dem Fänger, erwischt zu werden. Denn wenn der Fänger einen Mitspieler am Kragen hat, setzt es 30 Sekunden lang Prügel – und zwar ohne Gnade und ohne dass der Gefangene sich wehren darf.
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