For Those Who Can Tell No Tales

Eine Filmkritik von Sophie Charlotte Rieger

Geschichten aus einem verdrängten Krieg

Die bosnische Regisseurin Jasmila Zbanic (Esmas Geheimnis — Grbavica) wollte einen Film über ihr Land drehen, der die kollektive Verdrängung des Balkankriegs thematisiert. Doch wie erzählt man das, worüber niemand sprechen will? Und wie bringt man Verdrängtes filmisch an die Oberfläche, ohne Gefahr zu laufen, die Opfer als Mittel eines künstlerischen Zwecks zu missbrauchen? Die Antwort fand Zbanic in der autobiographischen Theaterperformance Seven Kilometers North East der Australierin Kym Vercoe. Wieso aber nutzt Jasmila Zbanic ausgerechnet die Perspektive einer Ausländerin, um in For Those Who Can Tell No Tales auf die Geschichte ihres eigenen Landes zu blicken?
Alles beginnt mit einem ganz normalen Urlaub. Kym, verkörpert von der wahren Kym Vercoe, reist nach Bosnien, schlägt sich mit wenigen Brocken der Landessprache durch und genießt ihr kleines Abenteuer in vollen Zügen. Einem Hinweis ihres Reiseführers folgend, fährt sie schließlich nach Visegrad, wo sie im Hotel Vilina Vlas eine unruhige Nacht verbringt. Zurück in Australierin geht Kym ihrer Schlaflosigkeit auf den Grund, beginnt über Visegrad zu recherchieren und macht eine schockierende Entdeckung: Während des Krieges befand sich in eben diesem Hotel ein Gefangenenlager, in dem 200 muslimische Frauen brutal vergewaltigt und ermordet wurden. Wie kann ein solcher Ort als idyllisches Reiseziel empfohlen, wie ein solches Hotel als Ort der Ruhe und Entspannung genutzt werden? Kym muss zurück nach Visegrad fahren und Antworten auf diese Fragen finden.

For Those Who Can Tell No Tales beginnt geradezu beschwingt. Die Melodie des Vorspanns deutet gar auf eine Komödie hin und Kyms erste Reise durch Bosnien gestaltet sich wie ein touristischer Werbeclip für die Balkanregion. Die Menschen strahlen mit der Sonne um die Wette, alle sind freundlich und entgegenkommend. Mit Kyms Recherche ändert sich alles – nicht nur für die Protagonistin, sondern auch für den Zuschauer. Vielleicht überspannt Jasmila Zbanic diese Veränderung ein wenig, wenn sie Kym in den tristen Wintermonaten zurück nach Bosnien reisen lässt, vielleicht ist dies auch tatsächlich so geschehen. Doch auch unabhängig von der Optik des Spielorts erscheint Visegrad plötzlich in einem vollkommen anderen Licht. Es ist kein Ort der Freude mehr, sondern einer des Misstrauens. Die Menschen, die noch vor wenigen Monaten gastfreundlich auf Kym zugegangen sind, verhalten sich ablehnend, wenn nicht gar feindselig. Immer wieder fährt ein Polizeiauto demonstrativ langsam an der Touristin vorbei. Ihr ausgedehnter Aufenthalt ist unerwünscht, ihr Bohren in offenen Wunden noch mehr. Über die Vergangenheit will niemand sprechen. Und warum auch? Die Bewohner der Stadt setzen sich aus Tätern und Zuschauern zusammen. Die Betroffenen der Vergewaltigungen und blutigen Massaker können ihre Geschichte nicht mehr erzählen.

Die anfängliche Unbeschwertheit des Films ist zunächst befremdlich. Was will uns diese scheinbar beliebige Reise einer Australierin in Bosnien erzählen? Die realistische, fast dokumentarische Optik ist wenig ansprechend, Kyms Videotagebücher wirken konstruiert. Doch nur wenig später ist es eben jener Realismus, der dem Film seine Kraft verleiht, sind es eben jene Videotagebücher, die dem Zuschauer einen emotionalen Zugang zu den Ereignissen der Vergangenheit ermöglicht. Kyms Ergriffenheit, ihre Gefühle von Wut und Trauer gehen auf das Publikum über. Die australische Künstlerin nimmt den Zuschauer glaubwürdig mit in ihren eigenen Erkenntnis- und Bewältigungsprozess. Wenn die Kamera langsam durch das Hotel Vilina Vlas streift und Kym im Voice Over langsam von eins auf 200 zählend jedem einzelnen Opfer gedenkt, steigert sich dieses Filmerlebnis bis zur Unerträglichkeit.

So wie Kym Verdrängtes zu Tage fördert, macht auch Jasmila Zbanic mit ihrem Film die schmerzhafte Vergangenheit mit einer Intensität sichtbar, die keine Flucht zulässt. Das unfassbar Schreckliche bleibt zwar unsichtbar, im gesamten Film gibt es nicht eine einzige Szene expliziter Gewalt, doch ist der Zuschauer der Realität dieser Taten schonungslos ausgesetzt. So wird Verdrängtes sichtbar, ohne es zur Schau zustellen. Dort wo ein direkter Zugang zu schmerzhaft und zu voyeuristisch wäre, ermöglicht die Perspektive einer Außenstehenden die sensible und doch ebenso wahrhaftige Aufarbeitung der Vergangenheit. Jasmila Zbanic und Kym Vercoe sind mehr als nur die Frauen hinter diesem bemerkenswerten Film. Sie sind das Sprachrohr „For Those Who Can Tell No Tales“.

For Those Who Can Tell No Tales

Die bosnische Regisseurin Jasmila Zbanic („Esmas Geheimnis — Grbavica“) wollte einen Film über ihr Land drehen, der die kollektive Verdrängung des Balkankriegs thematisiert. Doch wie erzählt man das, worüber niemand sprechen will? Und wie bringt man Verdrängtes filmisch an die Oberfläche, ohne Gefahr zu laufen, die Opfer als Mittel eines künstlerischen Zwecks zu missbrauchen? Die Antwort fand Zbanic in der autobiographischen Theaterperformance „Seven Kilometers North East“ der Australierin Kym Vercoe.
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