Empörung

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Allzu viel Bekanntes

Eine Krankenschwester füllt gewissenhaft Tabletten in Becher, fährt einen Gang entlang und bringt einen der Becher zu einer älteren Patientin. Sie sitzt an einem Tisch und ist eingenickt, wird von der Schwester geweckt, blickt auf die geblümte Tapete an der gegenüberliegenden Wand und beginnt zu lächeln.
Es folgt ein Blick zurück, ein männlicher Erzähler ist aus dem Off zu hören, das Bild zeigt Szenen eines Krieges. Während die Stimme überlegt, welche Entscheidungen einen Menschen dorthin bringen, wo er letztlich landet, erfolgt abermals ein Sprung in die Vergangenheit. In Newark, New Jersey findet eine Beerdigung statt. Abermals hat eine jüdische Familie einen Sohn im Korea-Krieg verloren. Doch Marcus (Logan Lerman) wird das nicht passieren. Der Metzgerssohn hat ein Stipendium erhalten und wird auf das Winesburg College in Ohio gehen. Sein Vater ist gleichermaßen stolz und unruhig, zu sehr befürchtet er, sein vorbildlicher Sohn, der bisher alles richtig gemacht hat, könnte einen einzigen Fehler begehen, der ihn das Stipendium oder schlimmer noch das Leben kosten könnte. Aber Marcus ist von scheinbar unerschütterlicher Zuversicht erfüllt, immerhin ist es sein Ziel im Leben, die Normen zu erfüllen. Auch auf dem College bleibt er anfangs fokussiert, er lernt und arbeitet in der Bibliothek, mehr macht er nicht. Bis eines Abends in der Bibliothek sein Blick auf das rechte Bein von Olivia Hutton (Sarah Gadon) fällt; nachlässig hängt es über der Stuhllehne und wippt regelmäßig hin und her. Marcus kann seinen Blick nicht abwenden, fast scheint die nackte Haut des Beines eine Provokation zu sein. Er ist so aufgewühlt, dass er seine Hausaufgaben nicht erledigen kann und fortan eine Verabredung mit ihr plant. Olivia ist anders als Marcus, sie ist impulsiv und emotional, handelt oft, bevor sie denkt. Und so gibt sie Marcus am Ende des Abends einen Blowjob, der sein Leben für immer verändert.

Empörung ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Philip Roth (Originaltitel: Indignation), in der der amerikanische Nobelpreisdauerkandidat abermals vom jüdischen Heranwachsen in den 1950er Jahren erzählt. Deshalb ist vieles an der Story allzu vertraut: ein jüdischer, sehr intelligenter Mann, der sich längst dem Atheismus zugewandt hat, der kleinen jüdischen Bruderschaft am College fernbleibt und mit seinen Mitbewohnern – der eine künstlerisch-exzentrisch, der andere praktisch-zurückhaltend – nicht recht zusammenpasst. Das alles erinnert schon sehr an Louis Begleys Ehrensachen und natürlich an wiederkehrende Topoi in Philip Roths eigenem Werk. Daher steht auch von vorneherein fest, dass Marcus‘ Leben aus der Bahn geworfen wird, insbesondere an diesem christlichen College in Ohio in der beschränkten Welt der 1950er Jahre. Im Grunde genommen droht er fast zu ersticken in dieser Welt, die von dem überbeschützenden Elternhaus und den konservativen christlichen Traditionen am College bestimmt wird. Jedoch ist nicht jeder zum Rebellen geboren, vor allem braucht man dafür oft auch ein wenig Glück. Für Marcus beweist sich hingegen, dass die Warnung seines Vaters weitsichtiger war als er dachte.

Empörung ist das Regiedebüt von James Schamus, der bisher als Drehbuchautor und Produzent unter anderem für Ang Lee (Der Eissturm) gearbeitet hat. Er kann sich auf seinen sehr guten Hauptdarsteller Logan Lerman verlassen, der mit diesem Film an seine Leistung in Vielleicht lieber morgen anknüpft und abermals einen idealistischen jungen Mann spielt, der seinen Platz im Leben behaupten will und dann von seiner ersten sexuellen Erfahrung und wachsenden Faszination für die verletzte und verletzliche Olivia erschüttert sowie zunehmend von der Empörung über die rigiden gesellschaftlichen Verhältnisse seines Lebens heimgesucht wird. Jedoch reicht die gute schauspielerische Leistung allein nicht, um die wenig ambitionierte Narration des Films auszugleichen. Sicherlich wird auch hier – wie in dem Roman – das Ende preisgegeben, jedoch wurde insbesondere für die Bedeutung des Koreakrieges in Marcus‘ Leben kaum eine filmische Umsetzung gefunden – und zudem wurde die introspektive Erzählstruktur allzu konventionell aufgelöst. Dadurch wird Empörung zu einem Coming-of-Age-Film, in dem allzu viel Bekanntes zu finden ist.

Denkwürdig sind daher lediglich die Konfrontationen zwischen Marcus und dem Dean seines Colleges (Tracy Letts), in denen Marcus seine Ansichten mit wachsender Wut und nicht nachlassender Persistenz verteidigt. Insbesondere das erste Aufeinandertreffen erzählt mehr über Marcus und seine inneren Konflikte, lässt mehr Ambivalenzen zu als alle vorhergehenden Bilder – und ist daher das erste Mal, dass man als Zuschauer überhaupt Interesse für diesen Charakter aufbringt. Denn gerade weil ähnliche Geschichten schon so oft erzählt wurden, müssen sie etwas Besonderes mit sich bringen, damit man sie sich ein weiteres Mal ansehen möchte.

Empörung

Eine Krankenschwester füllt gewissenhaft Tabletten in Becher, fährt einen Gang entlang und bringt einen der Becher zu einer älteren Patientin. Sie sitzt an einem Tisch und ist eingenickt, wird von der Schwester geweckt, blickt auf die geblümte Tapete an der gegenüberliegenden Wand und beginnt zu lächeln.
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