Dr. Ketel - Der Schatten von Neukölln

Eine Filmkritik von Sophie Charlotte Rieger

In einer nahen Zukunft

„In einer nahen Zukunft“ – so verortet Regisseur Linus de Paoli Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln. Dabei wirkt die Optik des Films eher wie aus einer nahen Vergangenheit. Düstere schwarz-weiß Bilder, Schatten, schiefe Kamera Winkel – irgendwie fühlt sich diese Inszenierung an wie eine Mischung aus Film Noir und den Anfängen des deutschen Gruselkinos. Linus de Paoli überschreitet Genre Grenzen, wechselt vom Drama zum Thriller und scheut sich nicht, seinen realistischen Rahmen urplötzlich mit einem surrealen Element zu sprengen.
Die „nahe Zukunft“ selbst nimmt sich erschreckend realitätsnah aus. Linus de Paoli präsentiert Berlin-Neukölln im Grunde wie es ist: türkische Supermärkte, verschleierte Frauen, Schnorrer, Punks, Penner und selbst die fleischgewordene Gentrifizierung namens „Hipster“ hat hier einen Auftritt. Doch die filmische Realität ist deutlich düsterer und verkommener als das Original, eine Welt, in der es keine Hoffnung zu geben scheint. Dabei machen Linus und Anna de Paoli, die gemeinsam das Drehbuch geschrieben haben, den Verfall dieser dystopischen Zukunft an einer einzigen Entwicklung fest: Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen. Sozial benachteiligte Bürger haben keinen Zugang mehr zu medizinischer Versorgung und Arzneimitteln, wodurch sich dieser Bereich zunehmend in die Illegalität verlagert. Und so ist der Held der Geschichte, Dr. Ketel gespielt von Ketel Weber, ein Arzt, der im Untergrund agiert, um den Bedürftigen mit Hilfe gestohlener Medikamente zu helfen. Als Antagonistin steht ihm Louise (Amanda Plummer) gegenüber, die als Vorzeigeagentin einer Sicherheitsfirma Medikamentendiebstähle untersucht. Als tragischer Held wird Dr. Ketel von der Gesellschaft in seinen Bemühungen nicht anerkannt, sondern sieht sich stattdessen bald dem eigenen sozialen Abstieg ausgesetzt.

Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln ist aus mehreren Gründen ein „unbequemer“ Film. Zum einen zeigen uns Anna und Linus de Paoli eine erschreckend realistische Zukunftsvision, die gerade durch ihre sparsame Inszenierung überzeugt. Hier sieht alles so aus, wie wir es kennen. Und dann wieder gar nicht. Die schwarz-weiß Optik und das Spiel mit Licht und Schatten sowie ungewöhnliche Kameraperspektiven vermitteln ein Gefühl von Fremdheit und markieren somit den Science Fiction Anteil des Konzepts. Unbequem sind auch die ungeschönten Bilder von Dr. Ketels Patientenbesuchen: offene Wunden, improvisierte Magenspiegelungen und das alles natürlich ohne Betäubung.

Unbequem ist gleicher Maßen das hölzerne Schauspiel von Hauptdarsteller Ketel Weber. Zu Beginn glauben wir noch, dieser Darstellungsstil sei notwendiger Teil des filmischen Konzepts. Er fügt sich in das Gefühl von Fremdheit und Isolation. Dr. Ketel ist auf Grund seiner geheimen Profession wieder jeder andere „Superheld“ ein Einzelgänger. Doch kaum haben wir seine betonungsarme Sprache akzeptiert, tritt Amanda Plummer auf und zeigt uns, dass es auch anders geht. Ihre Darstellung der Louise ist nicht minder entrückt, nicht minder fremd oder „unbequem“. Dennoch ist sie von der ersten Minute an in ihrer Rolle glaubwürdig. Wir schauen und hören ihr gerne zu, selbst wenn sie in langen Monologen über die Zusammenhänge der Welt philosophiert oder ihre Lebensgeschichte erzählt. Und nicht nur das: In der Begegnung mit ihr wirken auch Figuren, die zuvor ähnlich hölzern wie der Held daher kamen, plötzlich authentischer.

Dieser scheinbare Wechsel des Schauspielstils steht in engem Zusammenhang mit der Handlung selbst, denn Louise verändert in der Tat die Menschen in ihrem Umfeld. Wie auch Dr. Ketel ist sie eine Art heimliche Heldin. Im Gegensatz zu Dr. Ketel, dem auch rein physisch etwas Dunkles, Verbotenes, Schmutziges anhaftet, verströmt Louise Licht, Zuversicht und Wärme. Sie ist in der Lage, ihrem Gegenüber eine Perspektive aufzuzeigen, ihm dabei zu helfen, seine Bestimmung zu finden.

Alles in allem funktioniert Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln besser als filmisches Experiment und weniger als spannungsvoller Film Noir. Die Geschichte vermag nicht recht zu fesseln, die Charaktere sind zu entrückt, um mit ihnen zu sympathisieren. Obwohl diese Neuköllner Dystopie so nah unserer Realität rangiert, ist die Distanz zwischen Zuschauer und Protagonisten zu groß, um über die unbequeme Inszenierung hinwegzusehen.

Dr. Ketel - Der Schatten von Neukölln

„In einer nahen Zukunft“ – so verortet Regisseur Linus de Paoli „Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln“. Dabei wirkt die Optik des Films eher wie aus einer nahen Vergangenheit. Düstere schwarz-weiß Bilder, Schatten, schiefe Kamera Winkel – irgendwie fühlt sich diese Inszenierung an wie eine Mischung aus Film Noir und den Anfängen des deutschen Gruselkinos. Linus de Paoli überschreitet Genre Grenzen, wechselt vom Drama zum Thriller und scheut sich nicht, seinen realistischen Rahmen urplötzlich mit einem surrealen Element zu sprengen.
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