Die Nacht der 1000 Stunden

Im Labyrinth der Nacht

Wie bei vielen anderen Filmen, so lässt auch Virgil Widrichs Die Nacht der 1000 Stunden bereits in der Titelsequenz erahnen oder vielmehr erspüren, was später zu einem sowohl gestalterischen wie auch erzählerischen Grundprinzip des Filmes werden wird: Wie Prismen und Facetten eines Kaleidoskops schieben sich hier Bildelemente in- und übereinander und erzeugen so ein verwirrendes Ensemble verschiedenster Perspektiven die wie Detailaufnahmen eines Bildes von Maurits Cornelis Escher anmuten. Wobei das Tollkühne an dem folgenden Film ist, dass er versucht, nicht nur Blickwinkel zu vermischen, sondern gleich ganze Sphären, die wir sonst stets getrennt voneinander betrachten: die Lebenden und die Toten, die Vergangenheit und die Gegenwart, das Reale und das Fantastische. Doch der Reihe nach …
Seit vielen Jahren betreibt die Familie Ullich in Wien ein inhabergeführtes Unternehmen, das im Zeitalter der allgegenwärtigen Mobiltelefonie wie ein Relikt aus den goldenen Jahren der Gründerzeit anmutet: Sie sind mit dem Handel von Fernsprech-Apparaturen reich geworden. Und nun soll die Gesellschaft bereit gemacht werden für die Übergabe in die Hände der nächsten Generation. Deshalb tagt der Familien- und Unternehmensrat, zu dem neben Philip (Laurence Rupp, zuletzt in Ruth Beckermanns Die Geträumten zu sehen) auch seine Eltern und sowie die schrullige Tante Erika (Elisabeth Rath) erschienen sind. Letztere hält noch Anteile am Unternehmen, doch die will sie nun verkaufen, weil sie entdeckt hat, dass sich ihr Sohn Jochen (Lukas Miko) einer rechtsradikalen Burschenschaft angeschlossen hat, was der alten Dame überhaupt nicht taugt. Also soll Philip nun alleinverantwortlich das Ruder übernehmen, doch just in dem Moment, in dem die Unterschrift unter den Vertrag gesetzt werden soll, bricht die alte Dame zusammen und verstirbt, ohne unterzeichnet zu haben. Groß ist der Schock und dass der ausgebootete Jochen zu der Runde hinzustößt, macht die Angelegenheit noch komplizierter — bis die soeben Verstorbene plötzlich wieder höchst lebendig am Konferenztisch sitzt und so tut, als sei nichts gewesen.

Das allerdings ist erst der Auftakt zu einer überaus bemerkenswerten Nacht, denn Erika ist nicht die einzige Wiedergängerin des Abends. Nacheinander erscheinen andere sehr vitale Verblichene aus dem verzweigten Familienclan der Ullichs bei der Versammlung und bringen alles durcheinander. Besonders Philip gerät dabei in große Nöte, denn seine Tante Renate (Amira Casar), die er niemals persönlich kennengelernt hat (bis eben!), erweist sich als überaus verführerisch, was schließlich die Frage aufwirft, was denn eigentlich schlimmer sei — Nekrophilie oder Inzest? Das allerdings erweist sich keineswegs als größtes Problem, denn die Geister der Vergangenheit enthüllen schließlich ein lange verborgenes Geheimnis, das Philips Blick auf seine Familie und das Unternehmen, das er führen soll, grundlegend verändern wird.

Wie sehr die Toten unter uns leben und wie sehr Häuser den Geist oder vielmehr die Geister der Vergangenheit in sich tragen, das konnte man in Saarbrücken beim Filmfestival Max Ophüls Preis noch in einem anderen Film sehen: In dem Dokumentarfilm Sühnhaus von Maya McKechneay geht es im Prinzip um das gleiche Thema — und zudem gibt es unwissentlich sogar eine direkte Verbindung zwischen den beiden Filmen, denn an einer Stelle von Die Nacht der 1000 Stunden wird das Gestapo-Hauptquartier in Wien erwähnt und das befand sich vor dem Umzug ins Hotel Metropol just im Sühnhaus. Aber das sei nur am Rande und als Illustration für die bereits oft gemachte Feststellung erwähnt, dass sich auf Festivals oftmals unerwartete Querverbindungen und -bezüge zwischen einzelnen Filmen ergeben. Sonst aber sind Sühnhaus und Die Nacht der 1000 Stunden vollkommen unterschiedlich und zeigen geradezu antipodisch die Möglichkeiten filmischen Erzählens und des Umgangs mit einem Thema.

Von Beginn an lässt der Film und mit ihm sein Regisseur Virgil Widrich keinen Zweifel daran, dass bei allen sich ergebenden Wirklichkeitsbezügen Realismus nicht das Mittel der Wahl ist, sondern vielmehr Fantastik und eine auf die Spitze getriebene Künstlichkeit, die bereits beim bemerkenswerten Setting beginnt: Der gesamte Film wurde auf einer Bühne von 6 x 6 Metern mittels komplizierter und digital aufbereiteter Rückprojektionsverfahren realisiert. Das fällt zwar im ersten Moment dem Zuschauer (zumal dem ungeübten) nicht weiter auf, doch so erzeugt Widrich zusammen mit seinem Team eine durch und durch theatrale Anmutung, die insbesondere zu Beginn und auch durch die Tonalität der Dialoge an Boulevard-Komödien denken lässt. Spätestens mit dem Auftritt Erikas aber dreht sich die Atmosphäre ins Absurde und Mysteriöse, wird aus dem zunächst vorwiegend heiteren Schlagabtausch der Lebenden und der Toten ein paranormaler Whodunit mit politischem Bühnenhintergrund.

Dieser fliegende Wechsel von einem Genre ins andere erweist sich aber auch als Sollbruchstelle des Films: Am Ende ist das Haus so überbevölkert, der Stammbaum der Handelnden so weit verzweigt, das Geheimnis so vielschichtig (und dennoch von Beginn an recht offensichtlich), dass die eigentliche und sehr wichtige Botschaft der nach wie vor fälligen Notwendigkeit einer Vergangenheitsbewältigung nahezu ohne Wirkung verpufft. So bleibt am Ende vor allem die Erinnerung an eine Nacht, deren Nachwirkungen bei den Figuren wesentlich stärker ausgefallen sein dürften als beim Kinozuschauer.

(Festivalkritik Max Ophüls Preis 2017 von Joachim Kurz)

Die Nacht der 1000 Stunden

Wie bei vielen anderen Filmen, so lässt auch Virgil Widrichs „Die Nacht der 1000 Stunden“ bereits in der Titelsequenz erahnen oder vielmehr erspüren, was später zu einem sowohl gestalterischen wie auch erzählerischen Grundprinzip des Filmes werden wird: Wie Prismen und Facetten eines Kaleidoskops schieben sich hier Bildelemente in- und übereinander und erzeugen so ein verwirrendes Ensemble verschiedenster Perspektiven die wie Detailaufnahmen eines Bildes von Maurits Cornelis Escher anmuten.
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