Deutschland. Dein Selbstporträt

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Knocking’ on Germany’s Door

Deutschland einig Selfieland. Klack, Geräusch: Eine Kamera läuft. Eine Handykamera, wohlgemerkt. Manövriert anscheinend aus dem heimischen Bett heraus. „Ja, Leute: Das ist ein Video von meiner derzeitigen Wohnung. Recht penibel eingerichtet. Bisschen unaufgeräumt im Moment … so wie mein seelischer Zustand im Moment ist“, beschreibt die anonyme Filmemacherin ihre persönliche Befindlichkeit. Und damit beginnt schon die sehr spezifische Problematik dieses groß angelegten Kompilationsfilms nach dem Muster von Kevin MacDonalds Life in a day (2010/2011): Denn in Sönke Wortmanns Deutschland. Dein Selbstportrait werden biografische Momente nur angerissen, viel zu selten springt der Lebensfunke über – und rechte Neugierde oder gar Überwältigung seitens des Zuschauers ist lediglich in einer Hand voll Videofetzen möglich.
Wortmann, der Fußball-Fanatiker, hat als künstlerischer Leiter bei diesem Filmprojekt quasi permanent Tipp-Kick gespielt: Einmal links angelaufen, rechts getäuscht, Gegner ins Leere laufen – und dann: Konzentrieren für den Abschluss … Blöd nur, wenn der niemals zustande kommt. Stattdessen ein loser O-Ton-Skizzen-Teppich im Low-Level-Modus über die eigene Nation, die einem beim mühsamen Zusehen insgesamt eher fremder denn vertrauter erscheint. Filmemacher müssten brennen für ihre Sache, lautet eine alte Binsenweisheit des Filmgeschäfts. Aber hier ist der filmische Rasen so extrem glatt-geschmeidig, dass die Fußballschuhe des Zuschauers an keiner Stelle Gefahr laufen, Schmerzen zu verursachen. Reingrätschen, Aufregen, Mitfiebern? An keiner Stelle, nirgends: Deutschland, einig Mäßigungsland.

Im Vergleich zu Ridley Scotts wenn auch nicht hochklassigen, aber dennoch wenigstens deutlich abwechslungsreicheren Vorgängerprojekt (Life in a day) als Executive Producer, bei dem am 24. Juni 2010 gut 80.000 Laienfilmer dem Ausruf folgten, ihren durchaus persönlichen Alltag, ihre Sorgen wie ihre Ängste selbst einmal filmisch festzuhalten, verblasst Sönke Wortmanns Deutschland. Dein Selbstportrait schon nach nicht einmal 20 Minuten: Skurrile Augenblicke sind hier Mangelware, rohe Momente der Begeisterung wie der Ehrfurcht finden sich darin an keiner Stelle. Das permanente Gefühl, alles darin schon einmal gesehen zu haben, überwiegt dann doch gewaltig – und bleibt im Grunde bis zum Schluss bestehen.

Umso komischer also, dass eben jener Ridley Scott (Alien, Blade Runner) auch bei Sönke Wortmanns neuestem Dokumentarfilmprojekt für ein Massenpublikum Deutschland. Dein Selbstportrait als Executive Producer in der Verantwortung steht, zumindest ist er im Abspann zu lesen. Aber hat er sich wirklich aktiv eingemischt in dieses lahme Filmexperiment, das auch im Rahmen einer ARD-Themenwoche hätte entstehen können? Ist ja alles gut gemeint, nur hängenbleiben tut so eminent wenig.

Ohne großen Belang ist Wortmanns neues Filmprojekt, in dem er – in der Vorgehensweise prinzipiell analog zur oben genannten Konstellation Kevin MacDonald/Ridley Scott – knapp 82 Millionen Deutsche dazu aufrief, nichts weniger als einen Tag in ihrem Leben filmisch zu dokumentieren. Aus den gut 10.000 Einreichungen, gedreht überwiegend mit Handy, Tablet oder Smartphone, versuchte er im Anschluss in dramaturgisch enger Abstimmung mit seinem Cutter Ueli Christen so etwas wie einen in der Breite möglichst aussagekräftigen „Deutschland-Film“ zu montieren. Sein Arbeitstitel lautete dementsprechend lange „Deutschland. Made by Germany“, was so auch im Kern des eigentlichen Ergebnisses sicherlich erfüllt wird: Nur eben ohne große Emotionen, ohne große Wiedererkennungseffekte – abseits von singenden Chören, skatenden Teenagern oder dem einfachen Spießbürger nebenan, der so gerne Über den Wolken ist. Aber wo sind die Transgender-Protagonisten, die sozial Ausgegrenzten oder die einsamen Senioren wie Pflegekräfte in tausenden deutschen Kliniken oder Altersheimen? Sie tauchen nirgendwo auf in Wortmanns harmlosen Montage-Film. Hatten die Verantwortlichen vorher überhaupt auch an jene Bevölkerungsgruppen gedacht? Logischerweise kann Deutschland. Dein Selbstportrait überhaupt niemals repräsentativ sein, aber etwas mehr soziale Durchmischung hätte dem fertigen Produkt sicherlich nicht geschadet. Vielleicht hatte auch schlichtweg keine(r) aus diesen genannten Gesellschaftsgruppen etwas eingereicht? Das lässt sich final nicht aufklären, fällt aber unweigerlich ins Gewicht zur Gesamtbewertung des Films.

Wenn doch wenigstens der Originalton an mehreren Stellen gleich komplett weggelassen worden wäre und sich mehr der Künstler denn der Leiter in Sönke Wortmann durchgesetzt hätte … Wenn man auf schlichteste Weise einfach nur in vielen Miniaturszenen der Macht der Bilder mehr Vertrauen geschenkt hätte … Dann könnten jene oft leicht unscharfen Bilder wie deren mitunter gar nicht so blasse Personen dahinter oder davor tatsächlich zur weiteren intellektuellen Auseinandersetzung reizen.

Wortmann schaut jedoch nur passiv hin, weder besonders genau, noch besonders pfiffig. Deshalb wird dem Zuschauer auch gleich vor dem Filmtitel der Rezeptionsfahrplan in die Hand gedrückt, damit beim weiteren Hinsehen wie Zuhören bitteschön erst gar keine falschen – weil möglicherweise zu freie – Assoziationen geweckt werden dürfen: „Wir haben die Menschen in Deutschland aufgerufen, ihr Leben zu filmen … An einem einzigen Tag … 20. Juni 2015 … Titel … (Piano)“. Dann beginnt der erste, ebenfalls wenig kreative Baukasten aus der verschlafenen Dramaturgenkiste: Tagesbeginn. Ein kleines Mädchen beim Aufwachen. Schnitt. „Aufwachen, Papa!“ (Kinderstimme). „Morgen, Morgen! – Morgen Hänsel, morgen Gretel!“ Ach, lustig: Beide sind ja Gänse! Wenig später rutscht ein jung-alternatives Yogi-Aussteigerpärchen beim Knutschen – unmittelbar nach dem Liebesakt? – in die oft holprige Bildmontage aus der Schmiede Wortmanns und Ueli Christens hinein.

Natürlich sollte man den Massenkünstler Wortmann erst gar nicht mit dem Undergroundkünstler Robert van Ackeren vergleichen. Denn dessen freches, beinahe schon klassisches Schau-Hin-Auf-Teufel-Komm-Raus-Projekt Deutschland Privat von 1979 hat mit Wortmanns Deutschland. Dein Selbstportrait ungefähr soviel zu tun wie Til Schweiger mit geistig erfrischender, positiv fordernder Fernsehunterhaltung.

Authentisch-erquickende Softcore-Szenen voll der Kraft des Lebens sind beispielsweise im Falle von Wortmanns ausgewählten Hochzeits- oder Liebespaaren an keiner Stelle zu finden. Stattdessen folgen Lebensweisheiten wie „Wir Frauen müssen uns schminken!“ oder lediglich halbwegs funktionierende Loriot-Paare am heimischen Frühstückstisch. Auch schnelle Umschnitte können im Prinzip nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses durchaus ambitionierte Kompilationsprojekt in rascher Folge in wenig bleibenden Blockmontagen (z.B. Musik, Freizeit, Kinder, Bewegung) versandet. Oft übertönt wird das Ganze dann noch von ebenso wenig erquickendem Ludovico-Einaudi-Gedächtnis-Geklimpere. Einzig folgender O-Ton wird am Ende noch aus dem Kinosaal nach Hause getragen werden: „Ich bin Vollzugsbeamter mit Leib und Seele. Ich könnte mir überhaupt nichts anderes vorstellen: Ich mag das Strukturierte.“ Genau an dieser Stelle beißt sich Wortmanns Deutschland-Montage sprichwörtlich in den Schwanz: Also beim nächsten Dokumentarfilmprojekt gerne mehr Unstrukturiertes wagen – mehr Schlüsselloch sozusagen.

Deutschland. Dein Selbstporträt

Deutschland einig Selfieland. Klack, Geräusch: Eine Kamera läuft. Eine Handykamera, wohlgemerkt. Manövriert anscheinend aus dem heimischen Bett heraus. „Ja, Leute: Das ist ein Video von meiner derzeitigen Wohnung. Recht penibel eingerichtet. Bisschen unaufgeräumt im Moment … so wie mein seelischer Zustand im Moment ist“, beschreibt die anonyme Filmemacherin ihre persönliche Befindlichkeit.
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