Der Ost-Komplex

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Einblicke in die Seele eines Verwundeten

Der Luxemburg-Liebknecht-Gedenktag bedeutet immer großen Bahnhof für die Kommunisten aller Länder, die sich vor dem Mahnmal vereinigen – Alexei Tsipras marschiert auch mit. Gegenüber, recht klein: Ein Steinchen für die Opfer des Stalinismus. Regelmäßig gibt es Rabatz zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten. Denn war die DDR nun ein Unrechtsstaat oder nicht? Ein Filmtitel wie Der Ost-Komplex könnte suggerieren, dass es um eine Deutung der gesamten DDR-Staatlichkeit gehen könnte; die Analogie zu Stefan Austs Baader-Meinhof-Komplex kommt ja nicht von Ungefähr. Tatsächlich aber geht Hick sein Thema anders an, nämlich psychologisch, so kann man den Begriff „Komplex“ ja auch verstehen: Anhand von Mario Röllig, der als jugendlicher Republikflüchtling in der DDR einsaß und dadurch fürs Leben gezeichnet wurde.
Röllig ist schwul. Als Jugendlicher war er verliebt in einen Mann aus West-Berlin. Zu ihm wollte er, mit allen Mitteln. Und er wurde gefasst, verhört, inhaftiert. Ein schweres Leben begann: Insbesondere nachdem er Ende der 1990er Jahre seinen Stasi-Verhöroffizier wiedersah und einen suizidalen Nervenzusammenbruch erlitt. Seither Depressionen, Arbeitsunfähigkeit. Hass auf die DDR. Freiwilliger Mitarbeiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, das Gefängnis, in dem er einsaß. Mitglied der CDU, die für ihn als einzige Partei der DDR-Glorifizierung entgegenwirkt. CDU, man bedenke: Er als Schwuler!

Röllig ist unentwegt unterwegs, um seine Geschichte zu erzählen. Er fällt unter die Kategorie „Zeitzeuge“, wie sie zuvor durch KZ-Inhaftierte in der deutschen Gedenktradition etabliert wurde. Nur hört man im Film zweimal, der Zeitzeuge sei der Feind des Historikers. Einerseits kann er nicht widerlegt werden, er war dabei, er hat alles miterlebt. Andererseits spielen subjektive Befindlichkeiten, Traumata, Persönlichkeit eine so große Rolle, dass die Wahrheit vielleicht nur zu Teilen offenbar wird.

Diesem Phänomen geht Hick nach. Er betrachtet die Frage nach dem Unrecht der DDR aus dem ganz persönlichen Blickwinkel eines Betroffenen – dem der Film sein Leid niemals abspricht –; und er betrachtet auch diesen Blickwinkel mit. Betrachtet Mario Röllig, wie dieser seine Geschichte betrachtet. Blickt auch auf die Erinnerungskultur in Deutschland, mit Talkrunden und Schulbesuchen und Gefängnisbesichtigungen. Und führt Röllig nicht zuletzt auch auf eine Reise in die Vergangenheit, zurück nach Ungarn, zur Grenze ins damalige Jugoslawien, an der Röllig gefasst wurde.

Der Ost-Komplex gewährt tiefe Blicke in die Seele eines Verwundeten. Die politische Grausamkeit, die an Röllig ein Exempel statuierte, wirkt nach. Und sie wird verleugnet, von alten SED-Mitstreitern wie von jungen Links-Aktivisten. Einer kann sich überhaupt nicht vorstellen, warum Röllig überhaupt wegwollte aus der DDR; andere gehen aggressiv gegen den Verband der Opfer des Stalinismus vor; tatsächlich ist Röllig stur, wenn es um seine Lebensgeschichte geht. Er nervt sogar Kurt Biedenkopf, mit dem er an einer Diskussionsrunde auf einer USA-Tournee zur DDR-Geschichte teilnimmt: „Nee, ich kann nicht nochmal 15 Minuten zuhören“, sagt der ehemalige sächsische Ministerpräsident so leise, dass es nur das Dokumentar-Mikrophon hört, und geht zum Abendessen.

Penetrant ist er, der Mario Röllig. Wir verstehen, warum. Wir wissen nicht, ob und inwieweit er mit seinem absolut gesetzten Welt- und Geschichtsbild recht hat. Aber wir sehen, wie sie sich beim Liebknecht-Luxemburg-Gedenkmarsch auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde zoffen über den richtigen Umgang mit den DDR-Opfern.

Der Ost-Komplex

Ein Filmtitel wie „Der Ost-Komplex“ könnte suggerieren, dass es um eine Deutung der gesamten DDR-Staatlichkeit gehen könnte; die Analogie zu Stefan Austs „Baader-Meinhof-Komplex“ kommt ja nicht von Ungefähr. Tatsächlich aber geht Hick sein Thema anders an, nämlich psychologisch, so kann man den Begriff „Komplex“ ja auch verstehen: Anhand von Mario Röllig, der als jugendlicher Republikflüchtling in der DDR einsaß und dadurch fürs Leben gezeichnet wurde.
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