Der Landarzt von Chaussy

Eine Filmkritik von Falk Straub

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Ein Tumor im linken Schädellappen zwingt den Allgemeinmediziner Jean-Pierre Werner (François Cluzet), sich eine Aushilfe für seine Praxis zu suchen. Nathalie Delezia (Marianne Denicourt) muss sich in Thomas Liltis Provinzkomödie Der Landarzt von Chaussy fortan mit den Gepflogenheiten des Landlebens vertraut machen und viel Vertrauen erarbeiten.
In Chaussy gehen die Uhren langsamer. In diesem verschlafenen Nest, auf halber Strecke zwischen Paris und Rouen gelegen, sitzen die Patienten noch anstandslos im überfüllten Wartezimmer, benutzt der Arzt Karteikarten statt eines Computers und sterben die Alten im eigenen Bett und nicht im Hospital. Wenn Doktor Werner einem Bauern einen Hausbesuch abstattet, ist er auch immer ein bisschen Seelsorger, ein vertrauenswürdiges, weil vertrautes Gesicht. Veränderungen fallen schwer. Denn was der Bauer nicht kennt, frisst er bekanntlich nicht. Werners jüngere, aber nicht mehr junge Kollegin Nathalie muss sich nicht nur mit angriffslustigen Gänsen, sondern auch mit Patienten herumschlagen, die ähnlich störrisch wie ihre Tiere sein können.

Doch Nathalie ist keine Anfängerin, hat als Krankenschwester begonnen und sich bis zur Ärztin nach oben gearbeitet. Werners kritischem Blick, seinen kleinen Prüfungen und Scherzen hält sie Stand. Sein Credo, erst einmal zuzuhören, anstatt voreilig eine Diagnose zu stellen, nimmt sich Nathalie zu Herzen. Zwischen ländlichem Lachyoga und Squaredance fährt sie schließlich sanft, aber bestimmt ihre Ellbogen aus, um sich in Werners Praxis ihren eigenen Freiraum zu verschaffen. Mit kompetenter Arbeit und viel Geduld überzeugt sie erst dessen Patienten und schließlich auch den Chef. Am Ende kann selbst der Erfahrene noch etwas von seiner Novizin lernen.

Regisseur und Koautor Thomas Lilti inszeniert das Landleben ruhig und unaufgeregt. Auf platte Gags, plumpe Zoten und heillos überzeichnete Charaktere verzichtet er ganz, was seinem Film im Vergleich zu anderen Erfolgskomödien aus der französischen Provinz wie etwa Willkommen bei den Sch’tis (2008), Verstehen Sie die Béliers? (2014) oder Unterwegs mit Jacqueline (2016) deutlich mehr Realismus verleiht. Hier wird nicht grimassiert, nicht exzessiv gesoffen oder romantisch verklärt. Lilti packt Themen wie Krankheit und Alter, ungewollte Schwangerschaften und ein würdevolles Sterben an, Themen also, die in der Anonymität der Großstadt häufig untergehen. In der überschaubaren Dorfgemeinschaft sind sie offensichtlich und doch spricht sie kaum einer an. Auch Doktor Werner ist in manchen Fällen betriebsblind. Hier braucht es erst den sensibleren Blick einer Fremden, die Dinge zurechtzurücken.

In diesen Momenten hält Lilti, der selbst Medizin studierte, ein Plädoyer für eine medizinische Praxis, die sich (wieder) mehr Zeit für die Menschen nimmt. Am Ende weiß aber auch er nicht so genau, was Der Landarzt von Chaussy sein soll. Für eine (Wohlfühl-)Komödie ist Liltis Film zu nachdenklich, für ein Drama zu spannungsarm, für großes Kino bietet er zu wenig Schauwerte, erinnert eher an einen Fernsehfilm am Sonntagabend. Und so plätschert Der Landarzt von Chaussy ohne große (emotionale) Höhepunkte recht seicht dahin, bis die Protagonisten gemeinsam – wohlgemerkt als Kollegen, nicht als Paar – in den Sonnenuntergang fahren.

Der Landarzt von Chaussy

Ein Tumor im linken Schädellappen zwingt den Allgemeinmediziner Jean-Pierre Werner (François Cluzet), sich eine Aushilfe für seine Praxis zu suchen. Nathalie Delezia (Marianne Denicourt) muss sich in Thomas Liltis Provinzkomödie „Der Landarzt von Chaussy“ fortan mit den Gepflogenheiten des Landlebens vertraut machen und viel Vertrauen erarbeiten.
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Meinungen

Annette Wiemeyer · 13.10.2016

Mir har der Film gut gefallen. Der Umgang mit den "Landmenschen" - mit Krankheiten - mit dem Sterben, das alles ist feinfühlig inszeniert und schauspielerisch hervorragend.
Der Film regt sehr zum Nachdenken an, und man nimmt einiges mit nach Hause.

wignanek-hp · 19.09.2016

Der Film ist großartig. Ein leises Plädoyer für einen menschlicheren Umgang miteinander. Solche Ärzte gibt es nicht mehr viele, sollte es aber geben. Der Film plätschert nicht dahin, sondern er erzählt in ruhigen klaren Bildern vom Leben auf dem Land ohne Beschönigungen und das bis zum Schluss. Er verweigert sich der üblichen Dramaturgie und lässt sich nicht in eine Klischeeschublade stecken. Ihn dann gleich zu einem „Fernsehfilm für den Samstag-Abend“ zu degradieren, finde ich maßlos ungerecht. Die vermissten „Schauwerte“ finden sich auf den Gesichtern der Schauspieler und die Spannung ergibt sich einfach aus der Tatsache, dass der Zuschauer nicht weiß, wie die Geschichte ausgehen wird. Sie endet, Gott sei Dank, ganz unspektakulär, ohne dass der übliche Harmoniekitsch über dem Zuschauer ausgekippt wird.