Der Kuaför aus der Keupstraße

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Opfer falscher Verdächtigungen

Am 9. Juni 2004 explodiert vor einem türkischen Friseurladen in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe, die 22 Menschen verletzt. Das Attentat gehört zu der Serie von Mordanschlägen, die die Rechtsterroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds NSU zwischen 2000 und 2007 in ganz Deutschland verüben. Der Besitzer des Friseursalons, Özcan Yildirim, sein Bruder Hasan und die anderen Opfer des Anschlags mussten sieben Jahre lang mit der Ungewissheit leben, wer die Täter sind, denn die Terrorzelle wurde erst 2011 aufgedeckt. In dieser Zeit, praktisch von der ersten Befragung an, stehen die Opfer bei der Polizei selbst unter Verdacht. Der Dokumentarfilm von Andreas Maus, dessen Titel sich auf das Schild Kuaför Özcan des Friseurladens bezieht, geht der Frage nach, was mit den Opfern nach dem Anschlag passierte und wie sich die Ermittlungen und Verdächtigungen auf das soziale Miteinander in der Keupstraße auswirkten.
Zehn Jahre nach dem Anschlag, anlässlich eines großen Solidaritätsfests im Stadtteil Mülheim, betritt der Bundespräsident den Laden von Özcan Yildirim. Die Keupstraße mit ihren vielen türkischen und kurdischen Geschäften wird von Fotografen, Kameraleuten und Journalisten belagert. Der Friseur wischt sich nach der Begegnung mit Gauck verstohlen die Tränen aus den Augen. Die öffentliche Anteilnahme und der demonstrative Schulterschluss der deutsch- und der türkischstämmigen Bevölkerung kann auch als ein später Ausdruck des Bedauerns verstanden werden, weil die Ermittlungsbehörden so viele Jahre nicht an eine rechtsextremistische, fremdenfeindliche Tat glauben wollten.

Die türkischen und kurdischen Opfer vermuten als einzige von Anfang an einen ausländerfeindlichen Hintergrund. Ihren Erzählungen fügt Maus zahlreiche Auszüge aus den Verhörprotokollen und Ermittlungsakten hinzu. Gerade diese Dokumente enthüllen in der Summierung, wie akribisch und bis ins Lächerliche hinein die Polizei im Leben der Opfer jahrelang nach einem dunklen Punkt, einem noch so schwachen Hinweis dafür sucht, dass der Anschlag auf das Konto einer mafiösen Organisation von Ausländern oder Migranten geht. Hatte der Friseur denn nicht Kunden aus der „Türsteherszene“? Spielte er am Wochenende nicht Karten, Dart, Oddset – und brauchte womöglich Geld? Die Polizei setzt sogar zwei verdeckte Ermittler ein, um die Opfer auszuspionieren. Gerüchte machen die Runde, finden ihren Weg in die Zeitung. Özcan Yildirim kann nicht mehr schlafen, seine Ehe steht auf dem Spiel.

Maus filtert das beschämende Muster an Voreingenommenheit und Unbelehrbarkeit aus den Polizeiakten heraus, indem er zum Beispiel an einer Stelle einfach Ermittlerfragen ohne Punkt und Komma auf das Publikum prasseln lässt. Der Regisseur arbeitet als Rundfunkjournalist, unter anderem für das ARD-Politmagazin Monitor. Sein zweiter Kinodokumentarfilm nach Ballada von 2009 aber setzt für das Ziel einer aufklärerischen Analyse vielfältige stilistische Mittel ein und komponiert die Narration sorgfältig durch. Özcan Yildirim und die anderen Anwohner der Keupstraße, die hier auftreten, geben nicht nur Statements, sondern finden sich auch in einer Halle ein, in der die einzelnen Läden der Straße skizzenhaft wie für eine Theaterbühne nachgebaut werden. Hier finden auch nachgestellte Verhörszenen statt, in denen Schauspieler an die Stelle der Protagonisten treten. Aber daraus wird kein richtiges Reenactment, weil sie sich auf reine Sprechrollen beschränken, die in ihrer Ruhe leicht surreal anmuten.

Diese Verschränkung inszenatorischer Mittel hilft sehr effektiv dabei, die verstörenden Ereignisse in der Betrachtung erforschend zu drehen und zu wenden. Wiederholt spielt eine Aufnahme in Zeitlupe nach, wie die Nägel der Bombe durch die Luft fliegen, auf den Boden fallen. Mehr als einmal gehen auch die Täter durchs Bild, von einer Videokamera aufgenommen, unbehelligt, unerkannt: Diese gespenstischen Momente verdeutlichen, wie gut die Tarnung funktionierte, die ihnen die Einseitigkeit der Ermittlungen bescherte. Deren Gründe sind noch längst nicht aufgeklärt, aber dieser erhellende, sehenswerte Dokumentarfilm verdeutlicht, wie wichtig die öffentliche Diskussion darüber ist.

Der Kuaför aus der Keupstraße

Am 9. Juni 2004 explodiert vor einem türkischen Friseurladen in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe, die 22 Menschen verletzt. Das Attentat gehört zu der Serie von Mordanschlägen, die die Rechtsterroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds NSU zwischen 2000 und 2007 in ganz Deutschland verüben. Der Besitzer des Friseursalons, Özcan Yildirim, sein Bruder Hasan und die anderen Opfer des Anschlags mussten sieben Jahre lang mit der Ungewissheit leben, wer die Täter sind, denn die Terrorzelle wurde erst 2011 aufgedeckt.
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Meinungen

cri · 23.02.2016

Hervorragender Film!! Sehr einfühlsam und geduldig mit den Akteuren, den NSU-Nagelbombenopfern, arbeitend. Aufrüttelnd und die sog. Versäumnisse der Staatsorgane aufdeckend. Manchmal auch zum Lachen (der unsäglich peinliche, mediengeile Joachim Gauck). Dramaturgisch gut durchdacht und aufgebaut. Auch in Sachen Kameraführung etc.ein cineastischer Genuss.
Wir drücken die Daumen, dass die Kinos voll werden! Und danach: Bitte ins ZDF zur besten Sendezeit, als Kontrastprogramm zu dem unsäglichen Film über Zschäpe, der dort neulich lief.
cri, München