Denk ich an Deutschland in der Nacht (2017)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

The Politics of Dancing

Längst hat sich in den vergangenen Jahren die elektronische Tanzmusik aufgespalten und in unzählige Richtungen bewegt, deren manchmal grobe, dann aber auch wieder feine Unterschiede sich allenfalls Eingeweihten erschließen. DJ Ata (bürgerlich: Athanassios Christos Macias), einer der fünf Protagonist_innen in Romuald Karmakars sehr sehenswerter dokumentarischer Bestandsaufnahme der elektronischen Tanzmusik und DJ-Kultur Denk ich an Deutschland in der Nacht, beschreibt an einer Stelle den derzeitigen Zustand der Musik als riesigen Flickenteppich, in dem fast alles möglich ist. Zugleich aber müsse man schon sehr genau hinschauen, um die einzelnen Fäden und Verästelungen von Techno überhaupt zu erfassen. Und für Nicht-Eingeweihte sei die enorme Vielfalt, die es derzeit gäbe, sowieso kaum zu erklären.

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Demnach ist es also kaum verwunderlich, wenn Karmakars Beschäftigung mit dem Thema (übrigens nicht seine erste, denn zwischen 2003 und 2009 entstanden mit 196bpm, Between the Devil and the Wide Blue Sea und Villalobos schon andere Filme aus dem gleichen Bereich, hinzu kommt eine Passage in 24h Berlin – Ein Tag im Leben) gar nicht erst versucht, eine breit angelegte Einführung in die Materie zu geben. Vielmehr ermöglicht seine Herangehensweise einen anderen, womöglich exklusiveren, ganz sicher aber wesentlich intimeren Zugang ins Reich der Klänge und Rhythmen: Indem er die Künstler_innen einfach zeigt bei dem, was sie tun, indem er ihnen Raum gibt für ihre Gedanken und Einsichten, die manchmal auch ins Monologisierende gehen, die aber stets interessante Einblicke in neue Denkwelten bieten. Insgesamt fünf Künstler_innen aus dem Bereich Techno und House hat der Regisseur auf diese geduldig-beobachtenden Weise in seinem Film begleitet; neben Ata sind dies dessen zeitweiliger Mitstreiter Roman Flügel, die aus der Schweiz stammende Sonja Moonear, der Heidelberger Produzent und DJ Move D alias David Moufang sowie Ricardo Villalobos.

Ein klein wenig erinnert das anfänglich gezeigte Klanglabor des aus Chile stammenden und in Berlin arbeitenden Ricardo Villalobos an die moderne Version der Wirkungsstätte eines mad scientist aus einem Horrorfilm der frühen Kinohistorie: Überall stehen geheimnisvolle Gerätschaften herum, leuchten Dioden auf, locken unzählige Knöpfchen und Schalter, deren Bedienung einer Geheimwissenschaft gleicht, ziehen sich Kabel wie Schlingpflanzen durch die Räume und enden im Ungefähren. Zwischendrin in dem scheinbaren Chaos aus Mixpulten, Serverracks und anderen geheimnisvollen Apparaturen sitzt der DJ völlig entspannt und lauscht gebannt einer Neuerwerbung aus den 1970er Jahren. Später sehen wir dann Sonja Moonear in ihrem Studio an den Sounds basteln, besuchen Ata, der völlig gelöst und entspannt auf seiner Ledercouch sitzt und von seinen Anfängen erzählt. Ähnliches wird dem Zuschauer später bei Move D widerfahren, der auf einem Hügel oberhalb von Heidelberg steht und über seinen kindlichen Berufswunsch (Astronaut) und seine kindliche Faszination für Sounds philosophiert. Unterbrochen werden diese Szenen von Sequenzen, die die Soundzauberer in den Clubs zeigen, doch selbst da bleibt der Film ganz ruhig und wirkt mindestens so lässig wie die Menschen, die er zeigt.

Geduldig und oftmals mit nahezu unbewegter Kamera sammelt Karmakar Impressionen und (Lebens)ausschnitte ein, die sich erst im Laufe des Films zu einer Art Bewusstseinsstrom verdichten. Manchmal lässt der Filmemacher die Szenen lange stehen, so als wolle er seine Zuschauer dazu bringen, sich wie die DJs selbst völlig in die Musik, die Geräusche, die Atmosphäre und in das, was das gesagt wird, hinein zu begeben und zu vertiefen, den Sounds und dem Inhalt nachzuhorchen und so selbst etwas im Kopf entstehen zu lassen. Das gibt dem Film bei aller Härte des Beats etwas zutiefst Meditatives, eine Grundentspanntheit, die sich auch in all den verschiedenen Charakteren als wesentliche gemeinschaftliche Eigenschaft zeigt. Wir sehen Menschen, die mit sich und dem, was sie tun, völlig eins sind. Sie sind Mentoren und Schutzengel in einer Nacht, in der andere, freiere, fluidere Gesetzmäßigkeiten gelten als am Tag und normalerweise in Deutschland.

Insofern ist der einem eher skeptischen Gedicht Heinrich Heines entlehnte Titel vor allem eine Verheißung: „… dann bin ich um den Schlaf gebracht“ heißt es in dem 1844 erschienenen Werk Nachtgedanken, das Heine unter dem Eindruck des Pariser Exils und der schwelenden Unruhen in Europa geschrieben hatte. Aus dem äußerlichen Exil Heines ist ein inneres geworden, aus dem Club ein Ort unbedingter Freiheit, aus der einstmals Eliten und Experten vorbehaltenen Musik ein radikal demokratisches Instrument, das die Verhältnisse zum Tanzen bringen kann. In Karmakars flanierender, beiläufig erzählender und erst auf den zweiten und dritten Blick tiefer vordringender Anordnung der Bilder und Töne, der Interviews und langen Sequenzen spiegelt sich dieses Versprechen der Freiheit kongenial wieder.
 

Denk ich an Deutschland in der Nacht (2017)

Längst hat sich in den vergangenen Jahren die elektronische Tanzmusik aufgespalten und in unzählige Richtungen bewegt, deren manchmal grobe, dann aber auch wieder feine Unterschiede sich allenfalls Eingeweihten erschließen.

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