Das unbekannte Mädchen (2016)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Beinahe ein Thriller

Es ist spät am Abend, eigentlich sind die normalen Öffnungszeiten der Praxis von Jenny Davin (Adèle Haenel) längst vorbei. Doch sie sitzt noch immer mit ihrem Praktikanten Julien (Olivier Bonnaud) über Papiere und Verordnungen gebeugt, als es an der Tür klingelt. Während Julien reagieren will, herrscht die junge Ärztin ihn an, nicht zu öffnen; wenn es dringend wäre, so weist sie ihn zurecht, hätte es mehrmals geklingelt.

Es ist nicht die einzige Zurechtweisung, die der junge Praktikant an diesem Abend erfahren muss, so dass er schließlich die Praxis grußlos verlässt und nicht mehr wiederkommen wird. Stattdessen steht am nächsten Morgen die Polizei vor der Tür und verlangt Einsicht in die Aufzeichnungen der Überwachungskamera am Eingang. Ganz in der Nähe auf der anderen Straßenseite wurde der Leichnam einer jungen Frau gefunden. Und tatsächlich stellt sich heraus, dass es diese junge Frau gewesen war, die gestern Abend geklingelt hat. Sie war offensichtlich auf der Flucht gewesen und hatte in der Praxis noch Licht gesehen. Da sie keinerlei Ausweispapiere bei sich hat, kann die dunkelhäutige Frau nicht identifiziert werden. Und so begibt sich Jenny voller Gewissensbisse über die unterlassene Hilfeleistung auf die Suche nach der Identität der (wie sich später herausstellen wird) gewaltsam zu Tode Gekommenen. Dafür weicht sie erheblich von ihrem bisher genau durchgeplanten Lebensweg ab: Eigentlich war der Einstieg bei einer anderen Praxis in einem besseren Viertel der Stadt längst beschlossene Sache gewesen, zumal Jenny nur den erkrankten Praxisbesitzer vertreten hatte. Nun aber bietet sie dem arbeitsunfähig gewordenen Doktor Habran an, dessen Hausarztpraxis in einem Problembezirk weiterzuführen – was auch in der Hoffnung geschieht, dass sie so etwas über die näheren Umstände des Mordes und die Identität des Opfers herausfinden kann. Da sie alsbald einen ersten Anhaltspunkt hat, zieht sie kurzerhand in die Praxis und befindet sich quasi ununterbrochen auf der Jagd nach Informationen und Hinweisen.

Das unbekannte Mädchen, der neue Film der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, gleicht beinahe einem Thriller – wäre da nicht ihre typische sehr zurückhaltende Art und Weise der Inszenierung, ihre Verweigerung gegenüber den Erfordernissen des Genres und ihre überaus realistische, beinahe schon dokumentarische Sichtweise auf die Welt der kleinen Leute aus einfachen Verhältnissen. Wenn sich Jenny auf Hausbesuch befindet, dann hat man niemals das Gefühl, sich durch ein für einen Film gebautes Set mit Charakteren zu bewegen, sondern glaubt sich in einer „echten“ Sozialwohnung bei „echten“ Menschen. Dieser auf den ersten Blick schmucklose, nüchterner, fast ein wenig düster-triste Stil ist ebenso kennzeichnend für ihre Filme wie die konkrete und feste Verortung in den grauen Kleinstädten Walloniens.

Hinter diesen rußgrauen Fassaden und in den schmuddeligen Interieurs aber werden bei den Dardennes stets großen Fragen verhandelt – und so ist das natürlich auch in Das unbekannte Mädchen, der sich in verschiedenen Konstellationen mit den Themen Schuld und Verantwortung auseinandersetzt. Jenny hat sich nicht nur der Unterlassung schuldig gemacht, sondern bei ihrem Praktikanten Julien eine Krise ausgelöst, die seinerseits ebenfalls etwas mit Schuld zu tun hat. Auch die anderen Menschen, denen wir im Verlauf von Jennys Jagd nach der Wahrheit begegnen, haben in verschiedener Schwere und unterschiedlicher Ausformung Fehler begangen und Schuld auf sich geladen – und nicht jeder findet am Ende zumindest teilweise Erlösung. In gewisser Weise ist der Film — wie stets bei den Dardennes eine Versuchsanordnung über die Unzulänglichkeiten des menschlichen Miteinanders, die aus der in vitro-Situation herausgelöst und in ein genau beobachtetes und nachgezeichnetes soziales Milieu hineingepflanzt wurde.

In gewisser Weise gleichen die Filme der Dardennes dem Werk von Ken Loach und den Filmen Pedro Almodovars: Sie haben alle seit langer Zeit schon einen genau definierten Stil, einen nahezu gleichbleibenden Kosmos an Themen, Motiven und Stoffen gefunden und bearbeiten diesen mit Beharrlichkeit und weitgehend überraschungsfrei. Das unbekannte Mädchen stellt sicherlich kein Höhepunkt im Werk der beiden belgischen Regisseure dar, dazu besitzt er nicht den Sog von Zwei Tage, eine Nacht oder die Stringenz von Der Junge mit dem Fahrrad. Überaus solide und routiniert ist er dennoch geraten — und vor allem bietet er eine großartige Bühne für die mehr als nur bemerkenswerte Adèle Haenel.
 

Das unbekannte Mädchen (2016)

Es ist spät am Abend, eigentlich sind die normalen Öffnungszeiten der Praxis von Jenny Davin (Adèle Haenel) längst vorbei. Doch sie sitzt noch immer mit ihrem Praktikanten Julien (Olivier Bonnaud) über Papiere und Verordnungen gebeugt, als es an der Tür klingelt. Während Julien reagieren will, herrscht die junge Ärztin ihn an, nicht zu öffnen; wenn es dringend wäre, so weist sie ihn zurecht, hätte es mehrmals geklingelt.

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Meinungen

Martin Zopick · 16.09.2021

Hypokrates und die moralische Verantwortung.

Die junge Ärztin Jenny Davin (Adèle Haenel) hatte ihre Praxis bereits geschlossen, als eine junge Frau klingelt. Sie öffnet nicht und erfährt am nächsten Tag, dass man ihre Leiche gefunden hat. Bedenken und Gewissensbisse veranlassen Jenny zu recherchieren. Und obwohl sie anfangs auf eine Mauer des Schweigens trifft, eröffnen sich ihr immer weitere Kontakte. Es bilden sich um den Plot mehrere konzentrische Kreise, die erkennen lassen, dass man sich kennt und dass das Mädchen nicht so unbekannt war, wie es der Titel verspricht. Der Zuschauer wird nur mit sehr sparsamen Informationen versorgt: an der Tür klingelte eine Farbige junge Frau. Jenny trifft über ihre Patienten auf einige Leute, die sie kannten. Ein Sozialdrama, das von einem Unfalltod losgetreten wird. Es geht vorrangig nicht so sehr um Mördersuche oder Aufklärungsarbeit, sondern um ein tragisches Aufeinandertreffen von meistens abseits des Mainstreams agierender Zufälle. Im Halbdunkel von Illegalität und Immigration reichen die Wellen, die dieser Fall aufwirft bis zur eigenen Verwandtschaft.
Nur gelegentlich flackert latente Gewalt auf. Bei einem morphinabhängigen Vater (Jérémie Renier) etwa oder beim Verleiher von Campinganlagen (Olivier Gourmet). Komischerweise ist fast jeder bemüht, die Identität und den Namen des Mädchens geheim zu halten. Erst ganz am Ende erfahren wir sogar von zwei Namen des unbekannten Mädchens.

Bernd Dötzer · 19.04.2017

Habe den Film im Kino gesehen. Es ist kein Krimi und kein wirkliches Drama der Gefühle, eher ein dokumentarisch-authentisch wirkender Blick in das Leben einer jungen Ärztin, eingesetzt in einem Problem-Viertel, mit den dafür auf sie zukommenden Konflikten. Adèle Haenel meistert die Rolle glaubwürdig. Ihre Fangemeinde hierzulande hat mit diesem Film eine weitere, noch relativ seltene Gelegenheit, sie in einer deutschen Veröffentlichung in einer Hauptrolle agieren zu sehen.